Zwölftonmusik

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Bild 1: Grundreihe (R), Krebs (K), Umkehrung (U) sowie Umkehrung des Krebses (KU) einer Zwölftonreihe
Mit den Begriffen Zwölftontechnik oder Zwölftönigkeit bzw. Dodekaphonie (von altgriechisch δώδεκα dodeka = zwölf und φωνή phōnḗ = Stimme) und Zwölftonmusik werden kompositorische Verfahren zusammengefasst, die von einem Kreis von Wiener Komponisten um den jüdischen Komponisten Arnold Schönberg, der sogenannten „Schönberg-Schule“ oder „Wiener Schule“, in den Jahren um 1920 entwickelt wurden. Es betrifft das freie Komponieren mit allen zwölf Tönen der Oktave, und wird auch als Kompositionstechnik mit zwölf gleichberechtigten Tönen beschrieben. Allerdings hatte auch der heute kaum noch bekannte österreichische Komponist Josef Matthias Hauer um 1912 unabhängig von Schönberg damit begonnen eine eigene Methode der Komposition mit zwölf gleichberechtigten Tönen zu entwickeln.
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1 Musikhistorischer Hintergrund

Über Jahrhunderte herrschten in der Musik inoffizielle und allseits akzeptierte "Regeln", welche Harmonien, Harmoniefortschreitungen und Intervallkombinatioen "erlaubt" sind. Diese "Regeln" veränderten sich natürlich im Lauf der Musikgeschichte von Epoche zu Epoche. So verwendete Beethoven in seinen späteren Werken harmonische Ausdrucksmittel, die Bach oder Mozart nie eingesetzt hätten. In der Spätromantik war die Harmonik dann mittels Alterationen bereits dermaßen an ihre Grenzen gestoßen, dass manche Kompositionen z.B. von Franz Liszt, Alexander Skrjabin oder Charles Ives fast schon atonal waren. In Folge gingen erste Komponisten um die Wende zum 20. Jahrhundert dazu über frei atonal zu komponieren. In ihren existierten Werken existierten quasi keine harmonische "Regeln" und auch keine Tonarten mehr. Auch Arnold Schönberg komponierte für einen gewissen Zeitraum frei tonal. Bald aber empfand er diese absolute Regellosigkeit und Freiheit als dem Komponieren abträglich und sehnte sich nach einem neuen "Regelwerk". Deshalb entwickelte er dann seine Methode der Komposition mit zwölf gleichberechtigten Tönen. Schönberg selber beschrieb die aus seiner Sicht musikhistorische Zwangsläufigkeit des Aufkommens der Zwölftonmusik in folgenden Worten:
Bild 2: Arnold Schönberg als Lehrer an der University of California (Foto zwischen 1936 und 1940)
"In den letzten hundert Jahren hat der Harmoniebegriff durch die Entwicklung der Chromatik umwälzende Veränderungen erfahen. Die Vorstellung, daß ein Grundton den Aufbau der Akkorde bestimmte und ihre Aufeinanderfolge regelte - der Begriff "Tonalität" also -, mußte sich zunächst zu dem Begriff "Erweiterte Tonalität" fortentwickeln. Bald wurde es fraglich, ob ein derartiger Grundton nach wie vor das Zentrum bleibe, zu welchem Harmonie und Harmoniefolgen in Beziehung stehen müßten. Ferner wurde zweifelhaft, ob eine Tonika tatsächlich konstruktive Bedeutung habe. Richard Wagners Harmonik hatte eine Änderung der logischen und konstruktiven Kräfte der Harmonik herbeigeführt. Eine der Folgen war der sog. "impressionistische" Gebrauch von Harmonien, wie er besonders bei Debussy vorkommt. Seine Harmonien, die ohne konstruktive Bedeutung sind, dienten oft koloristischen Zwecken zur Darstellung von Stimmungen und Bildern. Auf diese Weise war die Tonalität - wenn nicht theoretisch, so doch praktisch - bereits entthront. Das allein hätte vielleicht noch keine radikale Änderung in der Technik des Komponierens herbeiführen müssen. Diese Änderung wurde jedoch notwendig, als gleichzeitig eine Entwicklung eintrat, deren Endphase ich "Emanzipation der Dissonanz" nenne. Das Ohr hatte sich nach und nach mit Dissonanzen in großer Zahl vertraut gemacht und dadurch die Angst vor ihrer "sinnstörenden Wirkung" verloren. Man erwartete keine "vorbereitenden" Wagnerschen und keine "aufgelösten" Straussschen Dissonanzen mehr und ließ sich von Debbusys nicht funktionellen Harmonien oder dem harten Kontrapunkt späterer Komponisten nicht aus der Fassung bringen." [1]

2 Regeln der Zwölftontechnik

Die wichtigste Regel dieser Kompositionstechnik lautet: Kein Ton einer vor der Ausarbeitung der Komposition festgelegten Tonreihe aller zwölf Töne darf wiederholt werden, bevor nicht alle Töne dieser Reihe erklungen sind. Diese Regel soll die Bildung tonaler Zentren bzw. Schwerpunkte wie in der von Schönberg und seinen Schülern und Anhängern als musikhistorisch überholt empfunden traditionellen Musik vermeiden.
Bild 3: Verteilung der Töne einer Reihe auf beide Hände im Klavierstück von Anton Webern [2]

Diese 12-tönigen Reihen können dann auf alle 12 Tonstufen transportiert und den Transformationen Umkehrung (Spiegel) (U), Krebs (K) sowie Umkehrung des Krebses (KU) unterworfen werden. Das ergibt dann zusammen mit der Grundreihe (R) 48 mögliche Permutationen. [3] Dabei sind direkt sich anschließende Tonwiederholungen auch in Oktavversetzungen erlaubt. Einen mehrstimmigen Tonsatz kann die Reihe auf verschiedene Weise realisieren. Jeder einzelnen Stimme eines polyphonen Satzes können verschiedene Reihengestalten zugrunde liegen. Die Töne der Reihe können dabei auch gleichzeitig (siehe Bild 3) in Form von "Akkorden" erklingen.

3 Immanente Probleme der Zwölftontechnik

Diese Möglichkeit der Verteilung der Reihentöne auf verschiedene Stimmen kann allerdings speziell bei größeren Besetzungen zu einer Neutralisierung des Reihenablaufs führen. So laufen in Schönbergs Orchestervariationen op. 31 in der Introduktion in den Takten 21 und 22 im "Zeitraum" von neun Viertelnoten vier Reihen nacheinander ab, obwohl die Instrumente nur je zwei bis zwölf Töne spielen. So gehören die 12 Töne der Violine vier verschiedenen Reihen an. Der Bezug zur ursprünglichen Reihe dürfte damit für den Hörer kaum noch nachvollziehbar sein. Im mehrstimmigen Satz kann auch der öfters praktizierte Einsatz einer Permutation der Grundgestalt vor Ablauf der ersten Reihe quasi eine Neutralisierung des Reihencharakters führen: Wenn ein Tonm der in der ersten Reihe bereits aufgetreten ist vor Ablauf der ersten Reihe in der Permutation zum Einsatz kommt, kann der Grundgedanke der Zwölftontechnik, d.h. tonale Schwerpunktsbildung durch das bevorzugte Auftreten einzelner Töne zu vermeiden, ad absurdum geführt werden. [4]

Ein weiteres immanentes Problem der Zwölftonmethode ergibt sich aus der Möglichkeit der Oktavversetzung der Reihentöne. Wenn man z.B. auf den ersten Reihenton d den zweiten Reihenton as zwei Oktaven über dem d erklingen lässt, kann der Hörer den Intervallzuammenhang der beiden Töne aufgrund des weiten Tonabstands nicht mehr nachvollziehen. Für ihn sind sie zusammenhanglos im Klangraum stehende Töne. Dies Problem verschärft sich noch, wenn die einzelnen Reihentöne zusätzlich auf verschiedene Instrumente verteilt sind.

4 Schönbergs Intentionen

Obwohl Schönberg bereits 1911 mit seiner Schrift Harmonielehre ein Lehrbuch der traditionellen Harmonielehre verfasste und sich in theoretischen Schriften auch mit Kontrastpunkt, Formenlehre sowie Instrumentation auseunandersetzte, hat er seine eigene Methode der Zwölftonmusik nie in einem eigenen Lehrbuch systematisch dargestellt. Dazu passt es, dass er die von ihm entwickelte Methode der Komposition in seinem eigenen musikalischen Schaffen weit weniger streng und orthodox befolgt hat als viele seine Schüler und Nachfolger (z. B. Anton Webern). [5] Schönberg hat sich aber in anderen Schriften zu seiner neuen Kompositionesmethode wie folgt geäußert:
Bild 4: Von Arnold Schönberg für die Berechnung von Transpositionen und Permutationen der Reihe für sein Bläserquintett op. 26 entwickelter "Reihenschieber"
"Nach vielen vergeblichen Versuchen, die sich über einen Zeitraum von annähernd 12 Jahren erstreckten, schuf ich die Grundlage zu einem neuen Verfahren des Komponierens, das geeignet schien, die bislang durch die tonale Harmonik gewährleistete Art der strukturellen Differenzierung ersetezen zu können. Ich nannte dieses Verfahren "Methode des Komponierens mit zwölf nur jeweils aufeinander bezogenen Tönen". Diese Methode besteht vor allem im ständigen und ausschließlichen Gebrauch einer Reihe von zwölf verschiedenen Tönen. Das bedeutet selbstverständlich, daß kein Ton innerhalb der Reihe wiederholt wird und alle zwölf Töne der chromatischen Leiter, wenn auch in veränderter Reihenfolge, angewandt werden. (...) Die Vereinigung von Tönen zu Harmonien und deren Aufeinanderfolgen wird durch die Aufeinanderfolge dieser Töne geregelt. Die Grundreihe fungiert als Motiv, weshalb für jedes Stück eine neue Reihe erfunden werden muss.Die Reihe ist der schöpferische Grundgedanke." [6]

Wie aus einem Brief Schönbergs an den Dirigenten René Leibowitz aus dem Jahr 1945 hervorgeht, sah Schönberg auch für sein Schaffen die von ihm entwickelte Methode des Komponierens mit zwölf Tönen allerdings nie als einzige mögliche Art der Komposition. Nachdem Leibowitz Schönberg vorgeworfen hatte, dass dieser sich in seiner Komposition Ode an Napoleon (op. 45) nicht an seine eigene Zwölftonmethode gehalten habe, antwortete Schönberg:

"1. Ich komponiere keine Prinzipien, sondern Musik. 2. Die Methode des Komponierens mit zwölf Tönen wurde von mir nicht als ausschließlich anzuwendender Stil eingeführt, sondern als Versuch, die funktionalen Eigenschaften der tonalen Harmonie zu ersetzen." [7] [8]

5 Wirkung und Kritik

Das Wien der 1920er- und 1930er-Jahre brachte der Musik von Schönberg und seinen Schülern Alban Berg und Anton Webern wenig Interesse entgegen. Auch die Musikkritiker reagierten eher ablehnend. So erkannten Erich Wolff und Carl Petersen in ihrem 1923 erschienenen Buch Buch Das Schicksal der Musik von der Antike zur Gegenwart in den Werken von Schönberg und seinen Schülern nicht nur eine Verfallserscheinung der Moderne, die "bis in die Karikatur hinein verzerrt" sei, und in der sich die "Inthronisation der Musik als der einzigen Sprache der wildesten Anarchie gegen die gestaltete Welt" zeige, sondern auch "offenen Anarchismus". [9] In der Zeit des Nationalsozialismus waren in Zwölftontechnik komponierte Werke wegen ihrer revolutionären Neuartigkeit, für den traditionellem Hörer dissonanten Wirkung und nicht zuletzt der jüdischen Herkunft des Schöpfers dieser Kompositionsmethode verpönt und galten als "Entartete Kunst". Das NS-Regime bevorzugte klar tonal gestaltete Musik. [10]
Bild 5: Reihe von Alban Bergs Violinkonzert

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wandten sich viele Komponisten der Technik der Zwölftonmusik zu. In England war dies Humphrey Searle, in Frankreich Georges Auric und später Pierre Boulez, in Amerika Ernst Krenek, in Italien Luigi Dallapiccola, in Deutschland Wolfgang Fortner und Hans Eisler. [11] Das breite Publikum konnten in Zwölftontechnik verfasste Kompositionen aber bis heute nicht überzeugen. Bezeichnenderweise basiert in Alban Berg Violinkonzert (siehe Bild 5) - einem der wenigen Zwölftonwerke, welches sich beim Publikum durchsetzen konnte - die Grundreihe fast ausschließlich auf konventionellen Dreiklängen. Sie lautet: g - b - d - fis - a - c - e - gis - h - cis - dis - f. Das sind nacheinander die Akkorde g-Moll, D-Dur, a-Moll, E-Dur sowie die drei letzten Ganztöne cis, dis und f.

Die Zwöltonmusik wurde seit ihrer Entstehung von Musikwissenschaftlern und Musikkritikern immer wieder enthusiastisch gefeiert und verteidigt, aber auch scharf kritisiert und abgelehnt. Der Soziologe und Musikkritiker Theodor W. Adorno pries sie in seiner Schrift Philosophie der neuen Musik als Kunst, "welche allein den gegenwärtigen objektiven Möglichkeiten des musikalischen Materials gerecht wird und seinen Schwierigkeiten konzessionslos sich stellt" [12] und sich dem kommerziellen Zwang der Kulturindustrie zur "mechanisierten Kunstware" [13] widersetze.

Ein weiterer Kämpfer für die Zwölftonmusik war der Dirigent René Leibowitz. In seinem Vortrag von 1948 mit dem Titel Ou`est ce que la musique de douze sons? verteidigt er die Zwölftonmusik mit der These, dass ein Komponist mit seinem visionären, in die Zukunft gerichteten Blick immer der trägen und konservativen Masse der Bevölkerung voraus sei. Der engagierte Musiker (musicien engage) biete der konventionellen und erstarrten Ordnung die Stirn und wirke mit seinen neuen musikalischen Prinzipien mit an der Bildung einer freiheitlichen Gesellschaft. Schönberg ist für Leibowitz das Vorbild eines Komponisten, der sich ohne Rücksicht auf den herrschenden Publikumsgeschmack von der tradierten Tonalität gelöst und mit dem Zwölftonsystem eine zeitgemäße musikalische Neuordnung geschaffen habe. [14]

Der Dirigent Ernest Ansermet dagegen kritisiert die Zwölftonmusik, weil sie den natürlichen physiologischen Aufnahmemechanismen des menschlichen Hörapparats und den gedanklichen Verarbeitungsprozessen des Menschen widerspreche und somit vom Hörer nicht wirlich rezipiert werden könne. Er schreibt dazu:
Bild 6: Die Aufführung moderner freitonaler oder zwölftöniger Werke von Alban Berg, Arnold Schönberg oder Anton Webern wurde damals - wie eine zeitgenössische Karikatur aus dem Jahr 1913 anlässlich eines Konzerts mit Werken der genannten Komponisten zeigt - vom Publikum meist als chaotisch empfunden und oft mit Missfallen und lautstarken Unmutsbezeugungen quittiert
"Indem Schönberg seine Reihe als eine Folge von Tönen aufstellt, die keine andere Beziehung zueinander haben als die von einem Ton zum nächsten, setzt er sich über das Gesetz des Hörbewusstseins hinweg, wonach die Töne in ihrer Aufeinanderfolge in der Ausdehnung eines Motivs oder einer Phrase auf die anfängliche Tonstellung bezogen werden. Das heißt, daß ein Hörbewusstsein die Reihe nicht so auffassen kann, wie Schönberg das wollte, und daß daher die Reihe nicht das Motiv eines Musikwerks werden kann, wie er sagt, es sei denn, sie hätte einen tonalen Sinn und würde als Melodie, als eventuelles Thema der schöpferischen Tätigkeit, ins Spiel gebracht, was uns zu den Bedingungen der tonalen Musik zurückführt." [15]

Die Zwölftonmusik basierere nach Ansermet außerdem meist auf rein theoretisierenden, reflexiven Überlegungen des Komponisten und nicht dem natürlichen musikalischen Empfinden. Der Zuhörer könne die komplexen Überlegungen des Komponisten in der Musik aber kaum nachvollziehen. Er schreibt dazu:

"Daher kommt es, daß zahlreiche interne Strukturen, die Schönberg sicher nur geschrieben hat, weil er sie für bedeutungsvoll und notwendig hält, dem Hörer entgehen. (...) Diese Anhäufung musikalischer "Fakten", von denen viele nicht "über die Rampe gehen", ist das sichere Anzeichen, daß Schönberg seine Musik in reflexiver Haltung und und durch Gedankenarbeit komponiert." [16]

Der weiterhin unbeirrt tonal (allerdings nach eigenen, in seinem Buch Unterweisung im Tonsatz dargelegten Regeln) komponierende Paul Hindemith war ebenfalls ein Gegner der Zwölftonmusik. Er sieht die Zwölftontechnik ähnlich wie Ansermet als den natürlichen physio- und psychologischen Grundlagen des menschlichen Hörprozesses zuwiderlaufendes System (Hindemith spricht in Unterweisung im Tonsatz u.a. von "der natürlichen Beschaffenheit der Töne", die "allzeit Gültigkeit haben" [17]). In Unterweisung im Tonsatz schreibt er zur Zwölftontechnik:

"Ich glaube nicht (abgesehen davon, daß ich es für unmöglich halte, den Gegebenheiten des Tonmaterials auszuweichen), daß die Freiheit errungen wird, wenn man das Prinzip natürlicher Ordnung durch das bloßer Abwechslung ersetzt. Nirgendwo gibt uns die Natuer einen Hinweis, daß es wünschenswert sei, in einem festgesetzten Zeitraum und in einer gewissen Höhenumgrenzung eine bestimmte Anzahl Töne abzuspielen. Willkürliche ausgedachte Vorschriften solcher Art lassen sich in Mengen finden, und wenn sie auf Kompositionsstile gegründet werden sollten, könnte ich mir umfassendere und und interessantere Spielregeln vorstellen. Die Beschränkung auf ein eigenbrötlerisches Tonkombinationssystem erscheint mir doktrinärer als die Leitsätze ausgekochtester Diatoniker." [18]

Igor Strawinsky - ein Klassiker der Musik des 20. Jahrhunderts - hatte die Zwölftonmusik lange Zeit als typisch deutschen Obskurantismus abgetan. Ende der 1940er- und 1950er-Jahre musste er aber mitansehen, wie Schönbergs Methode sich in Europa und den USA zunehmend ausbreitete. Nach Schönbergs Tod änderte Strawinsky ab 1951 seine Haltung und begann sich mit der Musik der Zweiten Wiener Schule intensiv auseinanderzusetzen. [19] In Werken wie seinem Septett von 1953, dem Chorwerk Canticum Sacrum ad Honorem Sancti Marci Nominis von 1955, den Requiem Canticles von 1966, In memoriam Dylan Thomas von 1954, oder dem Balett Agon aus dem Jahr 1958 hat Strawinsky dann die Zwölftontechnik in seiner ganz eigenen Art aufgegriffen. [20]

Pierre Boulez - der u.a. auch bei Leibowitz studiert hatte - war anfänglich ein begeisterter Anhänger der Zwölftonmusik. Später wurde er zu einem der Vorreiter der Seriellen Musik, distanzierte sich zunehmend von der Zwölftonmethode und meinte 1952 unter dem Stichwort "Schoenberg est mort", dass dieser am Projekt der Reihenkomposition gescheitert sei, und die Nachfolger bereit stünden, die Stafette zu übernehmen. [21] Boulez schrieb unter anderem:

"Lassen Sie uns also ohne den Wunsch Empörung hervorzurufen, aber auch ohne Scham oder Heuchelei oder ein melancholisches Gefühl der Frustration die Tatsache eingestehen, dass SCHÖNBERG TOT IST." [22]

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs stand traditionelle tonal und besonders neoklassizistische Musik in den USA, Europa und speziell in Deutschland bei vielen Intellektuellen unter den Verdacht als reaktionäre Kunst dem Totalitarismus und letzlich dem Faschismus Vorschub zu leisten. Die Zwölftonmusik dagegen stand für Modernität, Aufklärung und Freiheit. So behauptete z.B. der aus Österreich stammende Komponist Ernst Krenek in folgenden Worten, er habe sich der Zwölftonmusik zugewandt, um sich so von totalitärer Ästhetik zu distanzieren:

"Meine Aneignung der musikalischen Technik, welche den Tyrannen ganz und gar verhasst war, kann man als Ausdruck des Protestes verstehen und damit ihrem Einfluss zuschreiben." [23]

Der Komponist und Musikjournalist Herbert Eimert - ein Verfechter der Zwölftontechnik der sogar ein Lehrbuch dazu verfasste - gestand später in folgenden Worten ein, dass die Zwölftonmusik sich nicht wie erhofft auf breiter Basis beim Hörer durchgesetzt habe:

"Schönbergs Emanzipation der Dissonanz war eins der folgenschwersten Ereignisse in der Musik unseres Jahrhunderts. Sie wurde eine der Voraussetzungen der Zwölftontechnik, von der man lange geglaubt hat - und manche glauben es heute noch -, sie würde, analog den Funktionsgesetzen der Dreiklangsverbindungen, zu einer im Hören vollziehbaren Zwölfton-Tonalität führen. Heute sieht man, daß diese Zwölfton-Tonalität nicht stattgefunden hat, eine Illusion gewesen ist, und daß sich die Emanzipation der Dissonanz gradlinig in die Emanzipation der Geräuschfarben fortgesetzt hat." [24]

6 Abgrenzung zur Seriellen und Atonalen Musik

Die Zwölftontechnik muss von Kompositionstechniken wie der Reihentechnik (Serialismus bzw. Serielle Musik) und der Atonalen Musik deutlich abgegrenzt werden.

7 Literatur

Bild 7: Herbert Eimerts Lehrbuch der Zwölftontechnik [25]
  • Diether de la Motte: Kontrapunkt - Ein Lese- und Arbeitsbuch, dtv/Bärenreiter, 5. Aufl., München, 1994, Seite 337 bis 349
  • Carl Dahlhaus und Hans Heinrich Eggebrecht: Brockhaus Riemann Musiklexikon, Band II (L-Z), F.A. Brockhaus/B. Schott`s Söhne, Wiesbaden/Mainz, 1979, Seite 725 bis 727
  • René Leibowitz: Introduction à la musique de douze sons / Les variations pour orchestre op. 31 d'Arnold Schoenberg, L'Arche, Parism 1949
  • Ernest Ansermet: Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewußtsein, R. Piper & Co. Verlag, 5. Aufl., München 1991, Seite 524 ff.
  • Arnold Schönberg: Stil und Gedanke in Aufsätze zur Musik, Frankfurt a. M., S.Fischer, 1976
  • Herbert Eimert: Lehrbuch der Zwölftontechnik, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden, 1958

8 Weblinks

9 Siehe auch

10 Einzelnachweise

  1. Schönberg in Style and Ideal (dt.: Stil und Gedanke); zitiert nach Ernest Ansermet: Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewußtsein, R. Piper & Co. Verlag, 5. Aufl., München 1991, S. 531 und 532
  2. Anm.: Hier erlaubt sich Webern einen kleinen Verstoß gegen die sonst von ihm streng befolgten Regeln der Zwölftontechnik, da im dritten Durchlauf der Reihe in Takt 5 der letzte Ton Nr. 12 (das c) fehlt.
  3. Carl Dahlhaus und Hans Heinrich Eggebrecht: Brockhaus Riemann Musiklexikon, Band II (L-Z), F.A. Brockhaus/B. Schott`s Söhne, Wiesbaden/Mainz, 1979, S. 725 und 726
  4. Diether de la Motte: Kontrapunkt - Ein Lese- und Arbeitsbuch, dtv/Bärenreiter, 5. Aufl., München, 1994, S. 343 und 344
  5. Diether de la Motte: Kontrapunkt / Ein Lese- und Arbeitsbuch, dtv / Bärenreiter, 5. Aufl. , München, 1994, S. 337
  6. Arnold Schönberg in Style and Ideal (dt.: Stil und Gedanke); zitiert nach Ernest Ansermet: Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewußtsein, R. Piper & Co. Verlag, 5. Aufl., München 1991, S. 533
  7. Arnold Schönberg an René Leibowitz, 01.10.1945, ASC; zitiert nach Michael Schwalb: René Leibowitz / Missionar der Moderne, edition text + kritik, 2022, S. 35
  8. Die Originalaussage von Schönberg ist auf Englisch. Sie wurde vom Autor dieses Pluspediaartikel ins Deutsche übersetzt. Schönbergs originale Aussage von Schönberg lautet: "1. I do not compose principles, but music. 2. The method of composing with twelve tones was not introduced by me as a style to be used exclusively, but as an attempt of replacing the functional qualities of the tonal harmony."
  9. Olaf Michael Katzer: Musik und Schönheit im 20. Jahrhundert / Ein ambivalentes Verhältnis? oder: Die Frage nach dem Schönen in der Musik des 20. Jahrhunderts, GRIN Verlag, 2006, S. 9
  10. Lukas Haselböck: Zwölftonmusik und Tonalität / Zur Vieldeutigkeit dodekaphoner Harmonik, Verlag Laaber, 2005, S. 121
  11. William Mann: Geschichte der Musik - Von der Antike bis zur Gegenwart, Schuler Verlagsgesellschaft, Herrsching am Ammersee, 1982, S. 320 und 323
  12. Theodor W. Adorno: Philosophie der neuen Musik, J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen, 1949, S. 10
  13. Theodor W. Adorno: Philosophie der neuen Musik, Europaische Verlagsanstalt G.m.b.H., Frankfurt am Main, 1969, S. 13
  14. Rene Leibowitz: Ou`est ce que la musique de douze sons? - Le concerto pour neuf instruments op. 24 d`Anton Webern, Liege, 1948
  15. Ernest Ansermet: Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewußtsein, R. Piper & Co. Verlag, 5. Aufl., München 1991, S. 539
  16. Ernest Ansermet: Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewußtsein, R. Piper & Co. Verlag, 5. Aufl., München 1991, S. 526 und 527
  17. Paul Hindemith: Unterweisung im Tonsatz / 1 Theoretischer Teil, B. Schott`s Söhne, Mainz, 1940, S. 23
  18. Paul Hindemith: Unterweisung im Tonsatz / 1 Theoretischer Teil, B. Schott`s Söhne, Mainz, 1940, S. 185
  19. Alex Ross: The Rest is Noise / Das 20. Jahrhundert hören, Piper Verlag, München 2009, S. 424
  20. Fabian Krahe: "Who says it`s twelve-tone? / Igor Strawinskys spätes Komponieren, Waxmann, München/New York, 2014, S. 38 ff.
  21. Inge Kovacs: Warum Schönberg sterben muss ... Pierre Boulez`musikhistorische Selbsverortung um 1950; in Andreas Meyer und Ullrich Scheideler (Hrsg.): Autorschaft als historische Konstruktion / Arnold Schönberg - Vorgänger, Zeitgenossen, Nachfolger und Interpreten, J.B. Metzler, 2016, S. 323
  22. Eigene Übersetzung des Autors dieses Pluspediaartikel nach dem englischen Original "Let us then, without any wish to provoke indignation, but also without shame or hypocrisy, or any melancholy sense of frustration, admit the fact that SCHOENBERG IS DEAD." (Pierre Boulez: Schoenberg is Dead; in The Score 6, 1952, S. 22
  23. zitiert nach Alex Ross: The Rest is Noise / Das 20. Jahrhundert hören, Piper Verlag, München 2009, S. 389
  24. Herbert Eimert im Jahr 1964. Zitiert nach Peter Strasser: Simon Sechters Abhandlung über die musikalisch-akustichen Tonverhältnisse, Verlag Peter Lang, 2008, S. 141
  25. Herbert Eimert: Lehrbuch der Zwölftontechnik, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden, 1950

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