Opfermythos
Als Opfermythos werden Erzählungen sowie gängige Sichtweisen auf historische oder aktuelle Tatsachen bezeichnet, die von einem Kollektiv (Volk, soziale Gruppen, Religionsgemeinschaft usw.) oder einer Person zur Selbstdarstellung als Opfer verwendet werden. Dabei soll der Begriff Mythos die Erzählung häufig bloßzustellen, weil sie nicht der historischen Wahrheit entspreche. Mythos kann hier aber auch neutral im Sinne der Mythologie verstanden werden. Viele Opfermythen entwickeln sich aus Kriegsereignissen, Flucht und Vertreibung.
Inhaltsverzeichnis
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1 Psychologie
Die Psychologie versteht das Zusammenspiel von Opfer und Täter und kann somit beide Positionen einnehmen. Einseitige Betrachtungsweisen, in denen jemand immer nur Täter oder nur Opfer ist, sind sehr häufig. Der Wechsel von der Opfer- in die Täterrolle und umgekehrt ist oft zu beobachten, zum Beispiel bei der Entwikclung und Verarbeitung von Schuldgefühlen.
Wer sich nachweislich in einer Opferrolle befindet, kann z.B. von staatlicher Seite unterstützt werden. Wer hingegen nachweislich Täter ist, wird durch das Strafrecht geächtet. Gesellschaftlich unterstützte Opfer gelangen somit wieder in eine Machtposition, die sie durch wiederholten Hinweis auf ihre Opferrolle erhalten, während Täter durch mangelnde gesellschaftliche Unterstützung zu Opfern werden.
Das Selbstverständnis vieler Kollektive wird durch die - tatsächliche oder eingebildete - eigene Rolle als Opfer in der Geschichte geprägt. Dieses Gefühl, Opfer von anderen Mächten im Verlauf der Geschichte gewesen zu sein, kann den Umgang mit Niederlagen und Verlusten erleichtern. Es kann aber auch zu einer Abwehrhaltung führen, die es den Mitgliedern dieser Gruppen erschwert, sich unbefangen mit der eigenen Rolle in der Geschichte und der Gegenwart auseinanderzusetzen. Opfermythen sind auch beliebt bei Personen mit autoritärer Persönlichkeitsstruktur.[1] Aus einer Art von „schlechter Gewohnheit“ heraus überlässt man die Verantwortung für das eigene Schicksal anderen. Das lässt sich unter anderem am Zusammenhang zwischen Verschwörungstheorien und Opfermythen jeder Art belegen. Ein Opfermythos birgt die „Gefahr der Überfremdung“ und dient zum Beispiel dazu, eine Niederlage im Krieg zu erklären. Grundsätzlich kommt dem Opfermythos eine zentrale Bedeutung in der Schuldabwehr zu.[2]
2 Beispiele
2.1 Deutschland
In Deutschland spielten und spielen Opfermythen immer wieder eine zentrale Rolle in der Geschichtsbetrachtung. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert kam hier dem Antisemitismus[3] eine große Bedeutung zu: Von wirtschaftlicher Not bis hin zu politischer Instabilität wurde alles, was nicht so recht funktionieren wollte, einer „Weltverschwörung“ zugeschrieben.[4] Kapitalismus und Kommunismus wurden so „entlarvt“ als vermeintliche Produkte jüdischer „Zersetzungsarbeit“. Einen weiteren großen Opfermythos jener Zeit bildete die sogenannte Dolchstoßlegende[5] im Zusammenhang mit der Novemberrevolution 1918, wobei die hier ausgemachten Täter als Kommunisten der zuvor beschriebenen umfassenden jüdischen „Weltverschwörung“ zugerechnet wurden. Nach 1945 ging die Produktion der Opfermythen weiter, viele Deutsche stellten sich als Verführte, als Opfer des Nationalsozialismus dar.
Vor allem in den östlichen Bundesländern war ein Mythos beliebt, wonach der im Kern vorgeblich gerechte Sozialismus und die angeblich vorbildichen volkseigenen Betriebe nach der Wiedervereinigung im Jahr 1990 vom Kapitalismus und dem „bösen Westen“ systematisch kaputt gemacht worden sind.
Sich als Opfer der aus dem Holocaust erwachsenen Schuld zu sehen, ist einer der aktuelleren deutschen Opfermythen. Ein Beispiel für solche Mythenbildung ist der von Martin Walser geprägte Begriff der „Auschwitz-Keule“. Die wohl bizarrste Ausprägung in dieser Richtung bildet die Holocaustleugnung. Immer wieder versuchen nationalistisch motivierte Autoren, mit dem Verweis auf deutsche Opfer die Täterschaft der Deutschen im Nationalsozialismus zu relativieren. Meist geben sich die Vertreter solcher Richtungen als unverstandene Aufklärer und abseits stehende Opfer von Zensur. Dabei wird ein privater Opfermythos entworfen, der zusätzlich als Beleg für die vertretenen Thesen herangezogen wird.
2.2 Österreich
Österreichs traditionelles Verständnis als erstes Opfer des Nationalsozialismus seit dem Anschluss an Deutschland 1938 kann man in diesem Zusammenhang auch als einen solchen Opfermythos sehen, mit der die Betroffenen jahrelang die Aufarbeitung der eigenen Mitverantwortung abwehrten. Zumindest von offizieller Seite hat man sich davon in den letzten Jahren mehrheitlich abgesagt.
2.3 Sowjetunion
In der Zeit des Kommunismus wurden in der Sowjetunion, der DDR und anderen Staaten des Ostblocks als Propagandmittel immer wieder der Titel Opfer des Faschismus verwendet, um einzelne Personen in besonderer Weise darzustellen. In diesem Zusammenhang kam es auch zu Geschichtsfälschungen. Ein bekanntes Beispiel ist das Massaker 1940 in Katyn.
Der russische Präsident Wladimir Putin sieht Russland bereits 1917 nachträglich als Sieger im Ersten Weltkrieg und behauptet, der Sieg sei dem Land geraubt worden.[6]
2.4 Palästina
Im Nahostkonflikt wird die Opferrolle der Palästinenser oft von arabischen Ländern genutzt, um eine Politik gegen Israel zu rechtfertigen. Einige Muslime stilisieren sich als Opfer der westlich-christlichen Gesellschaft und sehen sich und ihren Glauben überall von Rassisten, Imperialisten, Zionisten, den USA oder christlichen Kreuzrittern angegriffen, anstatt die Gründe für persönliches oder gesellschaftliches Scheitern zum Beispiel in der Rückständigkeit ihrer Herkunftsländer zu suchen.
2.5 Kolonialismus
Ein auch in Europa gepflegter Opfermythos ist die Behauptung, die wirtschaftliche und politische Misere der Länder Afrikas sei auf die Herrschaft der europäischen Kolonialmächte im 19. Jahrhundert sowie vorgebliche aktuelle Ausbeutung durch die westliche Welt zurückzuführen und nicht auf das Versagen der afrikanischen Gesellschaften und ihrer Eliten.
2.6 Judentum
Die Generation von Juden, die nach 1945 nach Israel einwanderte, hat den Holocaust teilweise als ihren Opfermythos instrumentalisiert. Seit der Staatsgründung Israels haben die Sabres das immer wieder kritisiert.[7] Andere Ereignisse aus der Geschichte des Judentums, zum Beispiel die Babylonische Gefangenschaft, gelten traditionell bis heute als Opfermythen und prägend für die Religion und sind weniger umstritten. Einzelne Juden pflegen auch einen persönlichen Opfermythos, was insbesondere bei Zeitzeugen wie etwa Simon Wiesenthal verständlich war.[8]
3 Siehe auch
4 Literatur
- Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Fischer, Frankfurt am Main
- Detlev Claussen: Grenzen der Aufklärung. Die gesellschaftliche Genese des modernen Antisemitismus. Frankfurt 1987
- Wolfgang Benz: Bilder vom Juden. Studien zum alltäglichen Antisemitismus. München 2001
5 Einzelnachweise und Anmerkungen
- ↑ ein bekanntes Beispiel ist Erich Ludendorff, dessen Karriere angeblich durch eine Verschwörung verhindert wurde. Er bekam mit Paul von Hindenburg einen pensionierten General als Vorgesetzten
- ↑ Vortrag auf der 10. Arbeitstagung der Fachgruppe Differentielle Psychologie, Persönlichkeitspsychologie und Psychologische Diagnostik, in Landau 2009, Universität der Bundeswehr Münschen, Institut für Psychologie, Jürgen Maes u.a.: Poster zum Thema Schuldneigungen: Voraussetzungen und Folgen
- ↑ http://www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/37944/was-heisst-antisemitismus
- ↑ Beispiel Verschwörungsideologien auf www.belltower.news
- ↑ https://www.dhm.de/lemo/kapitel/weimarer-republik/innenpolitik/dolchstosslegende.htm
- ↑ https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-06/wladimir-putin-rede-gruppe-wagner-russland
- ↑ http://www.zeit.de/1995/21/Wie_in_der_Hitlerjugend/seite-2
- ↑ Er hat das selbst in einer Fernsehsendung in den 1970er Jahren so dargestellt, Jan Friedmann berichtete unter der Überschrift Überlebensgroßes Ego in Der Spiegel, 6. September 2010, Heft 36/2010, darüber.
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