Eigenbewegung (Anthropologie)

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In der Anthropologie, Kognitionswissenschaft und Physiotherapie wird als Eigenbewegung eine aktive Veränderung der eigenen räumlichen Position oder der Position eines Wahrnehmungsorgans bezeichnet, die für die Umwelt- und Selbstwahrnehmung von entscheidender Bedeutung sei kann.

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1 Eigenbewegungen von Lebewesen

Alle Dinge der Welt werden bewegt. So sind auch Lebewesen dieser allgemein wirkenden Bewegung unterworfen, sind aber auch in der Lage, zusätzliche Bewegungen durchzuführen, die außerhalb der von der Physik beschriebenen gesetzmäßigen Bewegungen liegen[1]. Diese "zusätzlichen" Bewegungen der Lebewesen sind von der Bedeutung und Sache her auf den Menschen bezogen Eigenbewegungen, die in der Literatur unter Wandern, Sport, Bewegung usw. isoliert behandelt werden. Eine Zusammenführung leistet die Theorie der Eigenbewegung. Ein Unterschied zwischen (allgemeinen) Bewegungen und lebendigen Eigenbewegungen besteht darin, dass bei ersteren eine Gegenkraft den jeweiligen Körper grundsätzlich immer von Außen angreift – entweder an bestimmten Stellen oder an der gesamten Oberfläche -, während bei Lebewesen der „Angriffspunkt“ der Kraft bzw. Energie im Innern wirksam ist. Eigenbewegungen bedürfen zusätzlicher Energien in Form von Nahrung, um ihre „eigenen“ Bewegungen aufrecht zu erhalten. Man unterscheidet äußere, körperlich-muskuläre von innerer, geistig-neuronaler Eigenbewegung. Die handlungstheoretische Definition „Denken ist internalisiertes Tun“ ist ein Ausdruck für diese Differenzierung[2]. Im Fortgang vorliegender Ausführung wird wie im alltäglichen Sprachgebrauch unter Eigenbewegung verkürzt die körperlich-muskuläre verstanden, die Ortsveränderung ermöglicht. Freiheit, Geschichtlichkeit, Sprache und Eigenbewegung machen nach Eugen Fink die vier Existenzialien des Menschen aus[3].

2 Eigenbewegungen des Menschen und Fremdbewegungen durch Motore

Der Begriff Eigenbewegung evoziert die Frage nach seinem Gegenpol, der Fremdbewegung. Fremdbewegungen sind technisch erzeugte statische oder mobile Bewegungen, die in den von Menschen geschaffenen Motoren und deren Maschinen materialisiert bzw. verkörpert sind. Da sie Eigenbewegungen von Menschen ersetzen, macht es aus dieser Perspektive Sinn, die Motorenbewegungen als Fremdbewegung zu bezeichnen. Zwischen Eigenbewegung und Fremdbewegung besteht ein wesentlich existenzieller Unterschied: Lebewesen haben im Energieeinsatz in der Evolution einen „Umweg“ eingeschlagen, indem sie die in der aufgenommenen Nahrung vorhandene Energie in körpereigene umwandeln (Assimilation), diese speichern, um bei Bedarf mit dieser Energie ihre Bewegungen autonom zu steuern. Das ist die materielle Basis für die Freiheitsräume des Menschen.

Aber unzweifelhaft bestehen zwischen den Eigenbewegungen von Lebewesen und den Fremdbewegungen durch Motore strukturelle und funktionelle Ähnlichkeiten, da Technik nicht das Andere des Menschen ist, sondern zu seinen Wesensmerkmalen gehört: Menschliches Handeln besteht aus technischer Kausalität und basiert auf Freiheit. Genau diese interne Kausalität hat der Mensch in Maschinen und Motoren veräußert – oft nach dem Modell von Lebewesen. Und umgekehrt den Menschen nach dem Modell Maschine[4]. Aber nicht nur die Erfindung und Herstellung, sondern die manuelle Steuerung bzw. entsprechende Programme sind immer menschlichen Ursprungs. Es ist begründet, die Technik bzw. ihre Erzeugnisse als die zweite Natur des Menschen zu bezeichnen[5]. Aber im Gegensatz zu seiner ersten Natur ist die zweite Natur eine vom Menschen selbst geschaffene und damit unter Umständen auch veränderbar, ja rückgängig zu machen z. b. durch Abschaffung oder Nichtindienstnahme.

3 Eigenbewegung des Menschen als Erlebnis oder als Beschreibung

Man kann die Eigenbewegungen des Menschen unterscheiden in innere Bewegungen des Körpers, um überhaupt zu leben, in Bewegungen der Hand, um Umweltbedingungen zu verändern und Bewegungen mit dem Fuß, um Ortsveränderungen durchzuführen.

Die Eigenbewegungen aktivieren und umfassen immer den ganzen Menschen: seine äußeren Bewegungen wie die von Organen, Händen und Füße und seine inneren Bewegungen wie Bewusstsein, Wahrnehmung, Denken, Kognition, Gefühle, Wollen, Werte, Subjektivität und die Fähigkeit zur Selbstreflexion.

Die äußeren Bewegungen beginnen mit Kopfbewegungen und Bewegungen der Gliedmaßen, wobei zumindest Greif- und Saugreflex eine angeborene Struktur besitzen[6]. Später differenzieren sich diese Bewegungen zu spezifischen Mustern in den verschiedenen Berufen, Künsten, Freizeitaktivitäten und Alltagsverrichtungen aus.

Alle diese Prozesse haben jeweils eine subjektive und objektive Seinsweise von denkbar höchster Verschiedenheit. Die subjektive Seinsweise heißt hier: Die jeweilige Eigenbewegung erscheint im Bewusstsein eines Ichs in der ersten Person Singular und wird ausschließlich nur hier erlebt. Dieses phänomenale Bewusstsein ist eines der zentralen Probleme der Philosophie des Geistes und wird dort unter dem Begriff Qualia behandelt[7]. Man versteht darunter den subjektiven Erlebnisgehalt eines mentalen Zustandes. Das Erleben von Quantität und Qualität der eigenen Bewegungen ermöglicht erst das, was man als Identität bezeichnet. Dieses Erleben macht den eigentlichen und nicht ersetzbaren Wert der Eigenbewegung aus.

Erlebnisse kann man aber auch von außen mündlich oder schriftlich beschreiben, indem man sie objektiviert. Das kann auf zweierlei Weise geschehen: Einmal kann der Akteur sein Erlebnis selbst beschreiben, indem er sich zum quasi-objektiven Beobachter seines Erlebnisses macht. Oder eine Eigenbewegung wird von einem externen Beobachter wahrgenommen und beschrieben. In diesem Fall liegt vollständige Objektivität vor. Zudem entsteht im externen Beobachter – und das ist oft ein nicht wahrgenommenes Phänomen – parallel ein inneres Erlebnis, gewissermaßen eine sekundäre Qualia, sein Erleben von Eigenbewegungen eines anderen Menschen. Es entsteht Täuschung, wenn man sich, wie zum Beispiel beim Fernsehen, diese Differenz nicht bewusst macht.

4 Physiologie der Eigenbewegung und ihre Funktion im Erkenntnisprozess

Für die Durchführung von Eigenbewegung sind Muskel- und Nervengewebe neben den Deck- und Bindegeweben konstituierend für die Durchführung von Eigenbewegung. Die Nerven sind basal in vegetativen Prozessen, in Empfindungen, Wahrnehmungen, Gefühlen, Willen sowie in Leistungen des Verstandes und der Vernunft wirksam. Muskeln ermöglichen, Objekte von verschiedenen Standpunkten aus wahrzunehmen und Ortsveränderungen sowie Handlungen durchzuführen. Darüber hinaus sind sie substanziell in den Sinnesorganen tätig und beeinflussen bzw. „färben“ zumindest alle Nerventätigkeiten. Die Kognition hat ihren Ursprung und Schwerpunkt im Nervensystem. Dagegen haben Werte und Gefühle ihren Ursprung in den Muskeln und nicht in den Nerven - Nerven machen sie nur bewusst. Dass es Übergänge von Sein zum Bewusstsein, von Physiologie und Psychologie gibt, ist unbestritten. Der Mensch (und alle Lebewesen) ist auf eine gelingende Zusammenarbeit beider Systeme existenziell angewiesen - zumindest auf minimaler Ebene: Selbst der Fußballspieler (hier Betonung auf Muskeln) muss wissen, welche Funktion ein Tor hat und wo es steht, selbst der Philosoph (hier Betonung auf Nerven) muss zumindest seine Augen bewegen und die Seiten des Buches umschlagen bzw. die Knöpfe seines Computers bedienen.

In welchem Verhältnis stehen das Nerven- und Muskelsystem physiologisch zueinander? Auf der Ebene der Zellen lassen sich beide Systeme eindeutig unterscheiden, denn sie sind durch einen Hiatus, d. h. durch einen unüberwindbaren Graben voneinander getrennt. Zwischen ihnen gibt es, von Reflexen abgesehen, keine substanzielle Einheit. Beide Systeme befinden sich nicht in einem naturwüchsigen, prästabilisierten Gleichgewicht.

Jakob von Uexküll mit dem Funktionskreis und Viktor von Weizsäcker mit dem Gestaltkreis haben wichtige Einsichten für das Verstehen der funktionalen Einheit von Wahrnehmen und Bewegen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelegt. Dass zwischen Geist und Körper eine intensive und starke „Zusammenarbeit“ bestehen muss, zeigen auch Forschungsergebnisse der Kognitionspsychologie, Entwicklungspsychologie, Deprivationstheorie und Neurophysiologie, die Arbeiten der Philosophen Schopenhauer[8] und Nietzsche[9] sowie der Pädagogen Hugo Kükelhaus und Horst Rumpf und humanistische Psychologen wie Moshé Feldenkrais und Alexander Lowen - um die bekanntesten zu nennen.

Angemerkt werden muss, dass es bis jetzt nicht eindeutig und zweifelsfrei gelungen ist, das Zusammenwirken von Muskel- und Nervensystem, den Übergang von Sein zum Bewusstsein zu beschreiben. Hier gilt immer noch das Wort von Emil Heinrich Du Bois-Reymond „Wir wissen nicht“ (ignoramus), wofür sicherlich auch das Moment der Freiheit eine Ursache ist. Da der Mensch nur über eine residuale Instinktausstattung verfügt, kann und muss er über Lernen beide Systeme stark machen und in ein Gleichgewicht bringen.

Erkenntnistheoretische Systeme, die aus der Aufklärung kommen oder ihr verpflichtet sind, haben große Schwierigkeiten, den sich bewegenden Körper systematisch-konstitutiv zu verorten. In der Einleitung zur transzendentalen Logik schreibt Kant: "Wollen wir die Rezeptivität unseres Gemüts, Vorstellungen zu empfangen, so fern es auf irgend eine Weise affiziert wird, Sinnlichkeit nennen; so ist dagegen das Vermögen, Vorstellungen selbst hervorzubringen, oder die Spontanität des Erkenntnisses, der Verstand"[10]. Sinnlichkeit und Verstand sind also die zwei Quellen der Erkenntnis. Natürlich ist auch hier die Sinnlichkeit an Sinnesorgane, insbesondere an die Augen (und damit auch an den Körper) gebunden, aber es ist eine reduzierte Sinnlichkeit, die, vom Verstand geleitet, dessen Vorgaben in der Außenwelt lediglich bestätigt. Das erkennende Subjekt wird zu einem punktförmigen, fast körperlosen Selbst und der sich bewegende Körper aus erkenntnistheoretischer Perspektive überflüssig. Wegen dieser Einseitigkeit hatten es ganzheitlich-praktische Ansätze in der Erkenntnisvermittlung an Schulen und Hochschulen schwer, angemessen berücksichtigt zu werden.

Ein weiteres Argument für die Position, dass der sich bewegende Körper eine condition humaine im Erkenntnisprozess ist, liefert folgender Hinweis: Nach der Theorie der verkörperten oder situierten Künstlichen Intelligenz scheiterten bisher alle Versuche, autonome künstliche Intelligenzsysteme zu realisieren auch daran, dass diese Systeme über keinen Körper verfügen[11]. Warum ist das ein Problem? Nur über den sich bewegenden Körper kommen die notwendigen und unverzichtbaren Werte in das kognitive System hinein. Diese Werte entscheiden über Setzungen, Selektionen, Präferenzen aus der unendlichen Zahl aller kombinatorischen Möglichkeiten. So ist selbst die Setzung, die Logik zur Richtschnur von wahren und falschen Verknüpfungen zu machen, eine wertende. Ginge man nicht von einem Leib aus, müsste man auf idealistische Konzepte zurückgreifen - was ja im kognitivistischen Wissenschaftsverständnis nicht zulässig wäre - oder emergenzphilosophische Konstrukte heranziehen. Als reale Quelle und als Erklärung bleibt dann nur der sich bewegende Körper übrig. Das kinästhetische System ist unverzichtbar für die Weltaneignung nicht nur in der Kindheitsphase (wie es die Entwicklungspsychologie mit Recht lehrt), sondern in allen Lebensphasen. Mit der Reduzierung kinästhetischer Aktivitäten werden gleichzeitig Ding- und Raumerfahrungen reduziert und damit auch Sinn und Bedeutungen (bekanntlich besteht eine enge Beziehung zwischen Sinne und Sinn).

5 Bedeutung der Energie im Vermittlungsprozess

Die Energieflüsse bewirken, dass aus Strukturen Prozesse, dass aus Muskeln Bewegungen werden. Sie schaffen im Gehirn Synapsen in Form von Bahnungen, durch die äußere und innere Bewegungen geleitet werden[12]. Als Beispiel möge der Greifreflex dienen, der über das vorbegriffliche Greifen mit dem begleitenden Spüren und Fühlen zum verbalen Begriff mit dem begleitenden Denken, Ordnen und Sprechen führt. Die Bahnungen zerfallen, wenn nichts für ihren Erhalt getan wird. Der Weg der Information aus der Umwelt ins Bewusstsein überquert zwei entscheidende Übergänge, gewissermaßen Brücken: a) die zwischen materieller Umwelt und Muskeln und b) die zwischen Muskeln und Nerven. Die Prozesse am ersten Übergang kann man analog der Prägung beschreiben und erklären: Die Muskeln werden in der körperlichen Auseinandersetzung von der jeweiligen physischen Umwelt im Verhältnis ein-zu-eins geprägt. Steige ich eine Treppe hinauf, wird deren funktionale Form in mir muskulär abgebildet. Beim zweiten Übergang findet keine Prägung, sondern eine Konstruktion statt: An den Muskeln befinden sich der Tastsinn, der innere Bewegungssinn und der Gleichgewichtssinn. Die jeweils muskulär erfahrene Umwelt wird von diesen Sinnen „aufgenommen“ und mit Hilfe zusätzlicher neuronaler Systeme zu Informationen verarbeitet. Inwieweit die muskuläre Prägung und die zusätzlichen Sinneserfahrungen abgebildet, modifiziert oder gar neu konstruiert werden, ist erkenntnistheoretisch nicht eindeutig zu beantworten. Hier findet der bereits angedeutete geheimnisvolle Übergang vom Sein zum Bewusstsein statt. Bei diesen Prozessen handelt es sich aber nicht um eine Einbahntrasse: Die über die Muskeln vermittelte Umwelt wirkt auf das Nervensystem ein wie umgekehrt das innere Bild der Umwelt über das Nerven- und Muskelsystem als Handeln verändernd auf die Umwelt einwirkt. Zumindest am Endpunkt dieses Prozesses ist die Energie nicht mehr neutral, entqualifiziert, homogen, sondern von inneren Anlagen und äußeren Bedingungen geformt und gerichtet: aus körperlicher ist geistige Energie geworden. Deutlicher und verständlicher werden die existenziellen Veränderungen der energetischen Prozesse in der Eigenbewegung, wenn man die in Maschinen und Motoren wirkenden Energieprozesse analysiert. Die Energie, die das Auto bewegt, fließt an den Fahrenden vorbei, berührt und verändert sie nicht, während durch Eigenbewegung ein Prozess in Gang gesetzt wird, der den Menschen in seiner Ganzheit erfasst. Erst in ihr und aus ihr konstituieren sich Körper, Geist und Seele, ja existenzielles Selbstbewusstsein. Das ist die entscheidende Differenz zwischen Eigen- und Fremdbewegung.

6 Eigenbewegung und Weg

Eigenbewegung ist ein hochkomplexer und ganzheitlicher Vorgang, an dem nicht nur Körper, Seele und Geist, sondern auch natürliche, soziale und kulturelle Umwelten als Gegenwart, Erinnerung und Hoffnung beteiligt sind. In diesem Prozess beeinflussen und verändern die beteiligten Funktionen und Dimensionen sich gegenseitig.

In der Wahrnehmung verengt sich der Raum zu einem Weg.[13][14] Dessen Ausdehnung beschränkt sich nicht auf seinen materiellen Untergrund. Der Weg schließt ein, was auf und an ihm, wobei das »an« weit in den Tiefenraum gehen kann bis hin zum Horizont. Er umfasst Steigungen, Untergründe, Menschen, Gebäude, Tiere, Pflanzen, Regen, Sonne, Wind, Gerüche, Stille, Geräusche und spezifische Atmosphären wie eine Stimmung am frühen Sonntagmorgen in der Allee, also Phänomene, die man als halbobjektiv auffassen kann. Und an diesen Dingen »kleben« Bedeutungen, also individuelle und kollektive Geschichten, Assoziationen, Werte, Wünsche usw.; der Weg ist also nicht linear, nicht zweidimensional, sondern zumindest dreidimensional bzw. vierdimensional, wenn man die Zeit hinzunimmt. Wege sind sehr verschieden. Das Spektrum reicht von Trampelpfaden bis zu breiten Alleen, von bestehenden zu neu zu bahnenden, von bekannten zu unbekannten, von reizvollen zu reizarmen, von schwierigen zu leicht begehbaren, von aufsteigenden zu absteigenden Wegen, mit und ohne Menschen, mit verschiedenen Natur-, Kultur- und Sozialanteilen. Wege sind Projektionsfläche von funktionalen, ästhetischen und sozialen Wünschen und Zielsetzungen.

7 Eigenbewegung und Sport

Das große Anregungspotenzial einer vielfältigen Umwelt gilt es in der Eigenbewegung zu nutzen. Sportliche Tätigkeiten tun dies nicht! Die Beziehung des Sports zur Umwelt kann man gut mit den Begriffen Assimilation und Akkommodation aus der Theorie Piagets, die den Geist aus dem Handeln ableitet, erklären[15]. Akkommodation besteht in der Schaffung neuer Begriffe, Assimilation in der Auffüllung dieser Begriffe. Wenn ein Kleinkind für alle größeren vierbeinigen Haustiere den Begriff »Hund« benutzt, wird es eines Tages gezwungen sein, einen zweiten Begriff »Katze« aufzubauen (Akkommodation) und jeweils mit verschiedenen Katzen und Hunden zu füllen (Assimilation). Nach diesem Prinzip verläuft der gesamte Bildungsprozess: Neue Begriffe bilden und diese mit Inhalten füllen, wobei es auch hier wieder auf ein Gleichgewicht zwischen beiden Prozessen ankommt.

Der Sport hat zur Umwelt ein Verhältnis der Assimilation, das heißt, die Umwelt muss bekannt und berechenbar sein, so dass sie mühelos in die Bewegungsabläufe integriert werden kann. Sonderformen des Sports wie Querfeldeinrennen, Wildwasserfahrten, Bergtouren mit Mountain-Bikes usw. müssen eine sehr differenzierte Umwelt berücksichtigen und sich ihr anpassen (Akkommodation). Aber diese Anpassung gilt nicht dem Kennenlernen der Umwelt als Selbst- und Bildungszweck, sondern dient der Weiterentwicklung der körperlichen Fähigkeiten, so dass man auch von einer sekundären Assimilation sprechen kann. Selbst sinnen- und sinnreiche Umwelten werden im Sport zu subjektiv monotonen Umwelten. In der Regel sind sie es auch real wie z. B. Sportarenen. Dieser grundsätzliche Einwand gilt, was die soziale Umwelt betrifft, nicht für den Mannschaftssport, der ein idealer Ort für soziales Lernen ist.

8 Eigenbewegung und Gesundheit

Ein Beispiel vollkommener Ruhe und Bewegungslosigkeit ist der Tod. Im Schlaf findet Eigenbewegung statt, die vom Bewusstsein meist nicht wahrgenommen wird. Die zunehmende Ersetzung der Eigenbewegung durch technische Bewegungen wäre aus der Sicht der Gesundheit nachteilig: Eigenbewegung ist ein Grundbedürfnis des Menschen wie Sprache und Freiheit. In und durch die Eigenbewegung hat der Mensch einerseits die Möglichkeit des direkten Zugangs zur Welt und zu sich selbst, andererseits wie ein Handwerker aber auch Veränderungen durchzuführen.[16]

Insbesondere neuere Befunde aus der Krebsforschung, Orthopädie, Psychiatrie, Kardiologie und Demenzforschung haben zu einer positiven Einstellung gegenüber der Eigenbewegung geführt und zu einer Abkehr von Therapien auf Basis „Ruhe“. Das gilt auch für die Vorbeugung: Eigenbewegung hat positive Auswirkungen auf Knochen, Haut, Muskeln, Harnwege, Lungen, Herz-Kreislauf-System, Verdauung, Sexualität und Schmerzempfindungen. Die Risiken bei Diabetes, Krebs, Bluthochdruck verringern sich, Gedächtnisschwund und Alterungsprozesse verlangsamen sich. Die Beziehung zwischen Bewegungsmangel und Übergewichtigkeit ist gut erforscht. Die positiven Auswirkungen der Eigenbewegung auf die seelisch-geistige Gesundheit sind vielfältig: Sie fördert Stressabbau, wirkt gegen Melancholie, Depressionen, Aufmerksamkeitsdefizitstörungen. Durch den direkten Kontakt zu sich selbst werden Identität und Selbstbewusstsein beeinflusst sowie die Zuversicht in die eigenen Fähigkeiten gefördert. Für den Aufbau von Erkenntnisvoraussetzungen, Intelligenzentwicklung und primärem Erfahrungswissen sind Eigenbewegungen konstitutiv.

9 Geschichte der Eigenbewegung

Am Anfang steht die Eigenbewegung: alle Lebewesen führen sie ausschließlich durch, außer wenn sie transportiert werden. In der Geschichte der Menschheit gibt es zu Beginn und über eine lange Periode hinweg allein die Eigenbewegung. Erst mit der Domestikation von Tieren, insbesondere des Pferdes, der Entdeckung und Nutzung der Wind- und Wasserkraft und der Erfindung von komplizierten Werkzeugen gelang es, teilweise die Eigenbewegung bei Herstellungsprozessen und Ortsveränderungen durch mechanische Apparaturen zu ersetzen, die allerdings noch direkt, d. h. vor Ort von natürlichen Energiequellen wie Wind, Wasser, Tier oder Mensch gespeist werden mussten: Mit der Erfindung der Dampfmaschine von James Watt im Jahre 1769 löste sich die starre Verknüpfung von zu betreibender Maschine und Energieträger. Die notwendige Energie konnte nun an jedem Ort und zu jeder Zeit freigesetzt und eingesetzt werden.

Im Fortgang dieser Entwicklung wurden alle Prozesse, die algorithmisch verlaufen, zunehmend von motorenangetriebenen Maschinen übernommen. Die Geschichte der Eigenbewegung ist eine Geschichte der Verdrängung durch die Technik. Exemplarisch dazu drei Befunde: Während vor ca. 10 000 Jahren unsere Vorfahren bis zu vierzig Kilometer täglich laufen mussten, um den Energiebedarf der Sippe zu decken, läuft der Bundesbürger heute außerhalb von Häusern täglich durchschnittlich 650 Meter. Jährlich werden allein in der Bundesrepublik acht Milliarden Fahrten unter einem Kilometer mit dem Auto durchgeführt. Die gegenwärtige Gesellschaft wird zunehmend zu einer sitzenden Gesellschaft. Diese Entwicklung besteht aus einem Bündel von Ursachen, die sich teilweise ergänzen und überschneiden: Bequemlichkeit als die zumeist unbewusste Antwort auf die körperlichen Mühen und Anstrengungen des Großteils einer Gesellschaft in der Vergangenheit (im klassischen Athen waren nur ca. fünfzehn Prozent der Bevölkerung freie Bürger); die Befreiung von harter körperlicher und geistig stupider Arbeit durch technische Erfindungen, die teilweise Selbstzweck wurden; Technik als Ware mit den entsprechenden Verkaufsstrategien; die real bestehenden Effizienzvorteile in bestimmten Bereichen wie Schnelligkeit, Ausdauer und quantitativer Output; die Technik wird richtig als eine Erweiterung menschlicher Fähigkeiten bestimmt, aber fälschlicherweise werden die realen technischen Produkte einem Kritiktabu unterworfen. Eine Kritik, dass durch die Technik der Mensch reduziert und gefährdet werden könnte, ist innerhalb dieses Denkrahmens nicht möglich.

10 Ökologische, soziale und ökonomisch-politische Aspekte

Grundsätzlich verbrauchen Eigenbewegungen neben dem normalen Stoffwechsel nur sehr wenig zusätzliche Energie. Den Anteil der Eigenbewegung insbesondere bei Ortsveränderungen zu vergrößern, ist effektiver Klimaschutz,[17] Die Verkehrswege für Fußgänger zu verbessern, ist ein Ziel in der Stadtentwicklung, seit die ersten Fußgängerzonen eingerichtet wurden.

Ein Mehr an Eigenbewegung ist effektiver Umweltschutz und kann den übrigen Verkehr entlasten. Die Förderung der Eigenbewegung ist auch eine zentrale politische Aufgabe. Dabei muss in der Stadtentwicklung die Altersstruktur der Bevölkerung berücksichtigt werden.

11 Literatur

  • Ayres, A. J.: Bausteine der kindlichen Entwicklung. Berlin 1992 ISBN 3-540-55809-8
  • Bielefeld, J. (Hrsg.): Körpererfahrung. Grundlage menschlichen Bewegungsverhaltens. Göttingen 1986 ISBN 3-8017 0246-4
  • Blech, J.: Bewegung. Die Kraft, die Krankheiten besiegt und das Leben verlängert. Frankfurt a. M. 2007 ISBN 978-3-10-004414-3
  • Dijksterhuis, E. J.: Die Mechanisierung des Weltbildes. Berlin 1983 ISBN 3-540-02003-9
  • Feldenkrais, M.: Bewusstheit durch Bewegung. Der aufrechte Gang. Frankfurt a. M. 1978 ohne ISBN
  • Grefe, Chr.: Ende der Spielzeit. Wie wir unsere Kinder verplanen. Reinbek 1995 ISBN 3-499-60204-0
  • Grober, U.: Vom Wandern. Neue Wege zu einer alten Kunst. Frankfurt a. M. 2006 ISBN 3-86150-722-2
  • Hannaford, C.: Bewegung – das Tor zum Lernen. 4. Aufl. Kirchzarten 2001 ISBN 3-924077-93-2
  • Heidegger, M.: Der Feldweg. 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1969 ohne ISBN
  • llich, I.: Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik. Reinbek 1980 ISBN 3-499-14629-0
  • Kant, I.: Kritik der reinen Vernunft. Stuttgart 1966 ISBN 978-3-15-006461-0
  • Klein, G. (Hrsg.): Bewegung. Sozial- und kulturwissenschaftliche Konzepte. Bielefeld 2004 ISBN 3-89942-199-X
  • Lowen, A.: Bio-Energetik. Therapie der Seele durch Arbeit mit dem Körper. Reinbek 1988 ISBN 3-499-18435-4
  • Maaßen, B.: geht los. Argumente für Eigenbewegung in Alltagswelten und eine Kritik des Autos. Glückburg 2006 ISBN 3-934097-25-1
  • Pfeifer, R./Bongard, J.: How the Body Shapes the Way We Think. A New Viev of Intelligen. Cambridge Massachusets 2007 ISBN 13:978-0-262-16239-5
  • Rosa, H. (Hrsg.): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt a. M. 2005 ISBN 3-518-29360-5
  • Rumpf, H.: Die übergangene Sinnlichkeit. Weinheim 1988 ISBN 3-7799-0559-0
  • Seume, J. G.: Seumes Werke in zwei Bänden. Weimar 1962 ohne ISBN
  • Seume, J. G.: Spaziergang nach Syrakus. 2. Aufl. München 1963 ohne ISBN
  • Spitzer, M.: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Heidelberg 2002 ISBN 3-8274-1396-6
  • Weizsäcker, v. V.: Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen. Stuttgart 1996 ISBN 3-13-418806-8
  • Zimmer, R.: Handbuch der Bewegungserziehung. Didaktisch-methodische Grundlagen und Ideen für die Praxis. Freiburg i. Br. 1993 ISBN 3451-26906-6

12 Weblinks

13 Belege

  1. G. Dux: Historisch-genetische Theorie der Kultur, S. 29 - 36
  2. H. Aebli: Denken: Das Ordnen des Tuns, Band I, S. 13 – 18; A. Leroi-Gourhan: Hand und Wort, S. 42 - 83
  3. E. Fink: Grundphänomene des menschlichen Daseins; D. Benner: Allgemeine Pädagogik, S. 293
  4. A Bammé u. a.: Maschinen-Menschen, Mensch-Maschinen, S. 52 – 61 und S. 155 – 173; A. Rabinbach: Motor – Mensch, S. 31 - 58
  5. M. Städtler: Selbstbestimmung zwischen Natur und Technik, S. 257
  6. A. J. Ayres: Bausteine der kindlichen Entwicklung, S. 21; R. Zimmer: Handbuch der Bewegungserziehung, S. 68 - 76
  7. T. Metzinger: Bewusstsein, S. 21 - 27
  8. A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, S. 151 - 156
  9. Fr. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, S. 40
  10. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, S. 120
  11. Dieser Hinweis geht auf eine schriftliche Mitteilung von Manuela Lenzen, Wissenschaftsredakteurin in der FAZ zurück, die zu dieser Problematik veröffentlicht hat.
  12. M. Spitzer: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens, S. 65
  13. O. Fr. Bollnow: Mensch und Raum, S. 96-99
  14. M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 91-96
  15. J. Piaget: Einführung in die genetische Erkenntnistheorie, S. 96 – 104 (Glossar); Ders.: Psychologie der Intelligenz, S. 140 - 175
  16. J. Blech: Bewegung. Die Kraft, die Krankheiten besiegt und das Leben verlängert.
  17. Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie: Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt, S. 34–51

14 Andere Lexika



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