Unionistenprozesse

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Die Unionistenprozesse fanden nach dem Ersten Weltkrieg im Osmanischen Reich, dem Vorgängerstaat der heutigen Türkei statt, und stellten erstmals in der Rechtsgeschichte den Versuch dar, Staats- und Kriegsverbrechen auf Regierungsebene zu ahnden. Angeklagt waren zahlreiche regionale und lokale Beamte, Offiziere und Funktionäre sowie 31 Minister der Kriegskabinette, die dem Komitee für Einheit und Fortschritt (türkisch Ittihat ve Terakki Cemiyeti) angehört hatten. Die Verfahren gegen letztere dauerten vom 28. April bis zum 25. Juni 1919. Angeklagt waren auch der ehemalige Innenminister und Großwesir Talât Pascha, der ehemalige Kriegsminister Enver Pascha und der einstige Marineminister Cemal Pascha. Sie hatten sich dem Prozess jedoch durch Flucht nach Deutschland entzogen und wurden in Abwesenheit zum Tode verurteilt.[1] Insgesamt sprach das Militärgericht 17 Todesurteile aus, von denen drei vollstreckt wurden. Bei der türkischen Bevölkerung sorgten die Prozesse für große Entrüstung, in Regierungskreisen wiederum wurden sie als notwendige Zugeständnisse betrachtet, weil man so hoffte, mit den Ententemächten günstigere Friedensbedingungen aushandeln und ihnen die Anerkennung der staatlichen Souveränität abringen zu können.[2]

Die Osmanischen Militärgerichte (Âliye Divan-ı Harb-i Örfi) waren Militärgerichte nach dem Waffenstillstand von Mudros, der den Ersten Weltkrieg beendete. Die Führer des Komitees für Einheit und Fortschritt sowie auserwählte ehemalige Offizielle wurden der Subversion gegen die Osmanische Verfassung, „Kriegsgewinnlerei“ und Massenmord sowohl an den Armeniern als auch Massaker an den Pontosgriechen angeklagt und vor das Kriegsgericht gestellt.[3] Das Gericht kam zu einem Verdikt, das die Organisatoren der Massaker, Talat, Enver, Cemal und andere, zum Tode verurteilte.[4][5]

Die meisten Militärgerichtsverfahren wurden verworfen und die ernsten Fälle wurden zum Internationalen Militärgerichtshof in Malta verlegt, anstatt sie an einem türkischen Gericht abzuhalten.[6] Die Militärgerichte wurden aufgrund der Bezichtigung von türkischen Angeklagten des Osmanischen Reiches als „türkisch“ bezeichnet. Sie wurden zu einer Bühne für politische Kämpfe. Die Prozesse halfen der Liberalen Unionspartei, das Komitee für Einheit und Fortschritt aus der politischen Arena zu drängen.[7] Während der zweiten Phase der internationalen Tribunale wurden osmanische Politiker, Generäle und Intellektuelle von den Gefängnissen in der osmanischen Hauptstadt Konstantinopel zur britischen Kolonie Malta verschifft, wo sie für drei Jahre festgehalten wurden, während in den Archiven von Konstantinopel, London, Paris und Washington betreffend ihrer Verbrechen geforscht wurde.[7] Die Prozesse bildeten ein Hauptargument im Vertrag von Sèvres, der zur Aufteilung des Osmanischen Reiches führte.

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1 Hintergrund

1.1 Erster Weltkrieg und Völkermord

Am Anfang des Ersten Weltkrieges, als der Völkermord an den Armeniern, der Völkermord an den Aramäern und die Massaker an den Pontosgriechen begannen, warnte die Triple Entente das Osmanische Reich am 24. Mai 1915 mit Blick auf die Nachrichten aus Anatolien:

„In view of these new crimes of Turkey against humanity and civilization, the Allied Governments announce publicly to the Sublime Porte that they will hold personally responsible for these crimes all members of the Ottoman Government, as well as those of their agents who are implicated in such massacres.[8][9][10][11][12][13][14]

1.2 Besetzung von Konstantinopel 1918

Die Alliierten warteten nicht auf einen Friedensvertrag nach dem Waffenstillstand von Mudros, um osmanisches Gebiet zu beanspruchen. Nur 13 Tage nach dem Waffenstillstand marschierte eine französische Brigade am 12. November 1918 in Konstantinopel ein. Die ersten britischen Truppen betraten die Stadt am 13. November 1918. Im frühen Dezember 1918 besetzten alliierte Truppen Sektionen von Konstantinopel und setzten eine Alliierte Militärverwaltung ein. Hochkommissar Admiral Somerset Arthur Gough-Calthorpe wurde zum Militärberater von Konstantinopel ernannt. Seine erste Aufgabe war es, im Januar 1919 zwischen 160 und 200 Personen der Regierung Tevfik Paschas festzunehmen.[15] Von dieser Gruppe sandte er 30 nach Malta. Calthorpe schloss ausschließlich türkische Mitglieder der Regierung Tevfik Paschas und des Militärpersonals mit ein. Dadurch wollte er deutlich machen, dass es eine militärische Besatzung gab, welche die Nichteinhaltung der Regeln hart bestrafen kann. Seine Position wurde aber nicht von anderen Partnern geteilt. Die Antwort der französischen Regierung auf diese mutmaßlichen Täter war der „Unterscheidung des Nachteils von Muslime und Türken, während bulgarische, österreichische und deutsche Täter bislang nicht festgenommen wurden“.[16] Im Februar 1919 wurden die Alliierten darüber informiert, dass das Osmanische Reich die Besetzung akzeptierte. Jede Quelle des Konflikte (einschließlich der Armenierfrage) sollte von einer Kommission untersucht werden, in der neutrale Regierungen zwei Aufsichtskommissare mitbringen können.[16] In Calthorpes Korrespondenz zum British Foreign Office war die Aktion, die zu den Verhaftungen führte, sehr zufriedenstellend und hatte das Komitee für Einheit und Fortschritt in Konstantinopel eingeschüchtert.[17]

2 Militärgerichte

2.1 Etablierung 1919

Die Nachricht von Calthorpe über die Militärverwaltung wurde vom Sultan Mehmed VI. hingenommen. Es gab eine östliche Tradition, den Autoritäten während ernster Konflikte Geschenke zu geben – manchmal auch „fallende Köpfe“. Es gab kein höheres Ziel, als die Integrität der osmanischen Institution zu bewahren. Falls die Wut von Calthorpe sich beruhigte, indem die Schuld auf wenige Mitglieder des Komitees Einheit und Fortschritt übertragen wurde,könnte das Osmanische Reich bei der Pariser Friedenskonferenz 1919 milder behandelt werden.[18][19] Die örtlichen Kriegsgerichte wurden etabliert, während die Pariser Friedenskonferenz mit dem Titel „Die Kommission über Verantwortung und Sanktionen“ mehrere Artikel zum Vertrag hinzufügte, welche die Übergangsregierung des Osmanischen Reiches, Sultan Mehmed VI. und Damat Ferid Pascha, zum Prozess vorluden.

2.2 Struktur

Nachdem die Personen vor Gericht geladen wurden, wurde ein Untersuchungsausschuss etabliert, der mit besonderen Vorladungsvollmachten ausgestattet war - etwa Festnahmen, den die Osmanen „Mazhar-Untersuchungsausschuss“ nannten. Diese Organisation sicherte osmanische Dokumente aus vielen Provinzen des Osmanischen Reiches, obwohl das Jungtürkische Triumvirat alles daran gesetzt hatte, möglichst viele Akten zu vernichten.

2.3 Rechtsfragen

Die Tribunale wurden unter der Besatzung abgehalten, dennoch standen die Richter nicht unter dem Einfluss der Besatzungsmächte. Rechtsstaatlichkeit existierte im Osmanischen Reich nicht, und es gab große Rechtsmängel; Verteidiger und Anwälte fürchteten um ihr Leben. Das osmanische Strafrecht kannte das Recht des Kreuzverhörs nicht. Dies waren allerdings Angelegenheiten der lokalen Jurisprudenz und die Urteile waren größtenteils zuverlässig. Allerdings wird von türkischen und aserbaidschanischen Historikern die Gültigkeit des Beweismaterials aufgrund des fehlendes Rechts der Angeklagten hinterfragt.[20] Die Entscheidung wurden mithilfe von Beweisen getroffen, die während der Vorbereitungsphase und der Verhandlungen von den Verteidigern vorgelegt wurden. Während der Verhandlungen wurden keine der vorgelegten Beweise verifiziert. Jedoch wurden viele Beweise nachträglich studiert und auf Gültigkeit überprüft. Nur wenige haben sich als Fälschungen herausgestellt.[21] In einigen Fällen wurde Hörensagen ein Mittel, da direkte Beweise nicht mehr vorgelegt wurden (ein direkter Beweis bezüglich Talât Pascha wird von türkischen und aserbaidschanischen Historikern als Fälschung bezeichnet - darunter die Signatur, der Code/Nummer des Dokuments und der fehlende Stempel). Während der Verhandlungen wurden Zeugenaussagen nicht dem Kreuzverhör unterstellt, oder wurden einige der präsentierten Materialien als anonymes Gerichtsmaterial vorgelegt (nicht von Zeugen gestützt, die Eides stattlich versicherten oder schwörten, die Wahrheit zu sagen).[22]

Als die internationalen Verhandlungen beendet waren, wurde der Hochkommissar von Konstantinopel, Calthorpe, durch John de Robeck, dem Oberkommandierenden des Mittelmeeres ersetzt.[6]"

3 Nachwirken

Die Artikel, die auf der Pariser Friedenskonferenz 1919 unter „Die Kommission über Verantwortung und Sanktionen“ vorgeschlagen werden sollten und die geschäftsführende Regierung des Osmanischen Reiches, Sultan Mehmed VI. und Damat Ferid Pascha vor Vorladung vor Gericht aufriefen, wurde nicht mehr im Vertrag von Sèvres aufgenommen. Damat Ferid Pascha war einer der vier Unterzeichner. Die Malta-Tribunale, die geplanten, jedoch nicht durchgeführten internationalen Prozesse der in Malta Inhaftierten. Zu internationalen Gerichtsverhandlungen wurden Verwaltungsbeamte und Intellektuelle des Osmanischen Reiches nach dem Waffenstillstand von Mudros und während der Besetzung von Konstantinopel nach Malta geschickt. All jene türkischen Offiziellen, die in Malta inhaftiert wurden, wurden auf Druck der türkischen Nationalbewegung unter Mustafa Kemal Atatürk von einem britischen Gericht freigesprochen und freigelassen.

Das osmanische Militärtribunal und die folgenden internationalen Prozesse, welche die Briten verwarfen, befreiten jene, welche die Armenische Revolutionäre Föderation als die Vordenker der Großen Katastrophe ansah. Beim 9. Generalkongress der Armenischen Revolutionären Föderation, die vom 27. September bis Ende Oktober 1919 in der neuen armenischen Hauptstadt Jerewan stattfand, war die Bestrafung gegen die Verantwortlichen des Völkermords auf der Agenda. Eine Einsatzgruppe, geführt von Schahan Natalie in Zusammenarbeit mit Grigor Merjanov, wurde berufen, um Talât Pascha, Pipit Dschiwanschir Chan, Said Halim Pascha, Behaeddin Schakir Bey, Jemal Azmi, Cemal Pascha, Enver Pascha sowie mehrere als „Verräter“ bezeichnete Armenier in einer Operation mit dem Codenamen Operation Nemesis hinzurichten.

Es gibt Kontroversen über die Übersetzung der Urteile und Berichte in westeuropäische Sprachen (vor allem Englisch und Deutsch), welche in Zeitungen veröffentlicht wurden. Gilles Veinstein, Professor für osmanische und türkische Geschichte an dem Collège de France, behauptet, dass die Übersetzung des ehemaligen armenischen Dokumentars Haigazn Kazarian angeblich „tendenziös“ sei.[23] Die türkischen Historiker Erman Sahin und Ferudun Ata bezichtigten Taner Akçam angeblicher „Fehlübersetzungen“ und „ungenauer Zusammenfassungen“, darunter nochmaliges Schreiben wichtiger Sätze und angeblicher „Hinzufügungen“, die in der Originalversion nicht vorkämen.[24][25][26]

4 Literatur

  • William A. Schabas, Genocide in International Law: The Crimes of Crimes, Cambridge University Press, 2000.
  • Vahakn N Dadrian: Holocaust and Genocide Studies. Oxford Journals 1997


5 Einzelnachweise

  1. Eine Übersetzung des Urteils in: Taner Akçam: Armenien und der Völkermord. Die Istanbuler Prozesse und die türkische Nationalbewegung. 2. Auflage, Hamburg 2004, S. 353–364. Vgl. auch die englische Fassung.
  2. https://de.wikipedia.org/wiki/V%C3%B6lkermord_an_den_Armeniern#%E2%80%9EUnionistenprozesse%E2%80%9C_und_politische_Entwicklung_bis_1920
  3. Taner Akçam: Armenien und der Völkermord: Die Istanbuler Prozesse und die Türkische Nationalbewegung (deutsch), S. 185, Hamburger Edition 1996
  4. edited by Edmund Herzig, Kurkchiyan, Marina: The Armenians past and present in the making of national identity. Abingdon, Oxon, Oxford: RoutledgeCurzon 2005, ISBN 0203004930
  5. ed. by George J. Andreopoulos: Genocide : conceptual and historical dimensions, 1. paperback print., Philadelphia, Pa.: Univ. of Pennsylvania Press 1997, ISBN 0812216164
  6. 6,0 6,1 Copy of Public Record Office, Foreign Office, 371/4174/136069 in Bilâl N. Şimşir: The Deportees of Malta and the Armenian Question, S. 8, Foreign Policy Institute 1999
    also S. 121 uses the same document as Vahakn Dadrian: The History of the Armenian Genocide, S. 342, Berghahn Books 2003, ISBN 1-57181-666-6
  7. 7,0 7,1 Klaus Detlev Grothusen: Die Türkei in Europa: Beiträge des Südosteuropa-Arbeitskreises der… (deutsch), S. 35, Berghahn Books 197
  8. 106th Congress, 2nd Session, House of Representatives: Affirmation of the United States Record on the Armenian Genocide Resolution. The Library of Congress 1915
  9. 109th Congress, 1st Session: Affirmation of the United States Record on the Armenian Genocide Resolution (Introduced in House of Representatives). The Library of Congress
  10. H.RES.316. Library of Congress June 14, 2005 . 15 September 2005 House Committee/Subcommittee:International Relations actions. Status: Ordered to be Reported by the Yeas and Nays: 40–7.
  11. Crimes Against Humanity. In: British Yearbook of International Law, S. 181 1946
  12. Original source of the telegram sent by the Department of State, Washington containing the French, British and Russian joint declaration. Armenian Genocide
  13. William S. Allen, The Nazi Seizure of Power: The Experience of a Single German Town 1922–1945, Franklin Watts; Revised edition (1984).
  14. William A. Schabas, Genocide in International Law: The Crimes of Crimes, Cambridge University Press, 2000, Seiten 16–17
  15. Public Public Record Office, Foreign Office 371/4172/13694 in Bilâl N Şimşir: The Deportees of Malta and the Armenian Question, S. 11, Foreign Policy Institute 1999
  16. 16,0 16,1 Public Record Office, Foreign Office, 371/4172/28138 in Bilâl N. Şimşir: The Deportees of Malta and the Armenian Question, S. 13, Foreign Policy Institute 1999
  17. Public Record Office, Foreign Office, 371/4172/23004 in Bilâl N. Şimşir: The Deportees of Malta and the Armenian Question, S. 79, Foreign Policy Institute 1999
  18. Vahakn N Dadrian: International Journal of Middle East Studies, S. 554 1991
  19. Vahakn N Dadrian: Holocaust and Genocide Studies, S. 31, Oxford Journals 1997
  20. Altug Yilmaz: The Turkish Code of Criminal Procedure, S. 232, London: Sweet and Maxwell 1962, ISBN 9998061628
  21. Ataöv, Türkkaya. The 'Armenian Question': Conflict, Trauma and Objectivity.
  22. Heck to State Department, Feb. 7, 1919, U.S. National Archives, RG 59, 867.00/81 (M 820, roll 536, fr. 440)
  23. L’Histoire. April 1995 .
  24. Sahin, Erman. Journal of Muslim Minority Affairs (PDF) S. 308.
  25. Middle East Policy (Review Essay) S. 149–57 (Spring 2010).
  26. Ferudun Ata: An Evaluation of the Approach of the Researchers Who Advocate Armenian Genocide to the Trials Relocation. In: The New Approaches to Turkish-Armenian Relations. Istanbul University Publications, Istanbul 2008, S. 560-561.

6 Andere Lexika

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