Politische Psychiatrie

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Politische Psychiatrie bezeichnet die vielfältigen Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen Politik und Psychiatrie. Zu diesem Thema gehören auch Zwangsbehandlungen, die für politische Zwecke missbraucht werden. Die Kritik am Missbrauch psychiatrischer Institutionen im Sinne von Herrschaftsinteressen, vor allem aber die Berücksichtigung der Menschenrechte in der Psychiatrie ist umfassende Aufgabe eines neuen Selbstverständnisses aller Betroffenen innerhalb des psychiatrischen Versorgungssystems, von Patienten und Ärzten.[1] Insofern deckt sich die Kritik auch mit der Forderung nach Abschaffung politischer Justiz. Übereinstimmend mit dem Begriff der Politischen Psychologie liegt der Schwer- und Bezugspunkt einer politischen Psychiatrie beim Individuum.[2]

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1 Theoretische Grundlagen

Die Kritik der Psychiatrie ging zunächst davon aus, dass sich der im Sinne der politischen Psychiatrie ausgeübte Einfluss weitestgehend auf die Rolle einzelner Kranker innerhalb der Gesellschaft konzentriert, ohne die oft allzu ausschließliche und allzu große Rücksichtnahme auf die Sichtweise ärztlicher Experten. Politische Psychiatrie kann auch Gegenstand der Sozialmedizin sein. Die Kritik darf jedoch keinesfalls als „sozialistische Medizin“ missverstanden werden, sondern ist in neutraler Weise auf die Betrachtung der Wechselwirkungen Betroffener mit politischen Einflüssen und Instanzen beschränkt. Häufig erfolgt solcher Einfluss auf dem Umweg über psychiatrische Institutionen. Unter dieser Voraussetzung richten sich Forschungsfragen auf Untersuchungen, „wie Politisches sich den Individuen darstellt, zu welchem Verhalten es sie herausfordert und in welchen Ausformungen es ihren Bestrebungen entgegenkommt oder zumindest von ihnen akzeptiert wird“.[3]

2 Beispiele politischer Psychiatrie

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3 Methoden

Emanzipatorische Zielsetzungen in der Psychiatrie wurden durch Horst Eberhard Richter in seinem 1972 erschienenen Buch „Die Gruppe“ vertreten.[5]

Es handelt sich bei der Diskussion um die politische Psychiatrie meist weniger um allgemeine psychologische Theorien und Mechanismen gesellschaftlicher Einflussnahme, vielmehr geht es oft um komplexe Einzelfälle von Kranken. Bei deren Einzelschicksalen stehen politische, institutionelle und gesellschaftliche Einwirkung und Bedingtheit in Frage. Eine einheitliche Methode besteht bei der Vielfältigkeit der Problemfälle nicht. Hierzu ist zunächst eine Analyse politischer Faktoren erforderlich.

Eine kritische Beurteilung solcher Alternativen zwischen Anspruch und Möglichkeit bewirkt auch eine veränderte Sichtweise psychischer Erkrankungen in Abhängigkeit von der durch ein politisches System mitbestimmten Haltung, sei sie nun fürsorglicher oder nur mehr oder weniger abwehrender bzw. technisch-organisierender Art. Die gemeinhin als psychisch krank angesehenen Betroffenen empfinden sich z. T. mit irrationalen gesellschaftlichen Stigmata behaftet. Hierbei wird oft von Psychiatrie als „Herrschaft“ in instrumenteller Hinsicht gesprochen.

4 Geschichte

Da es sich bei der Psychiatrie um eine vergleichsweise junge Wissenschaft handelt und die geschichtlichen Gegensätze der die Psychiatrie berührenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen stets wechselhaft gewesen sind, erscheint es angebracht, methodische Anleihen nicht nur bei der Psychologie, sondern auch bei der Philosophie zu machen. Im Fachgebiet der Psychologie ist das Stichwort Politische Psychologie ein seit 1860 von Adolf Bastian eingeführter Begriff und in der Literatur bis heute geläufig. Die Philosophie hat seit der Antike auch eine politische Zielrichtung vertreten, vgl. Platons Politeia. Es besteht eine lange fortgesetzte Tradition politischer Philosophien. Ähnlich wie bei der Philosophie ist es auch die methodische Fragestellung der kritischen Psychiatrie, von bestehenden politischen Systemen unabhängige Grundsätze menschengerechter Behandlung in der Öffentlichkeit zu gewährleisten. Da die Beurteilung psychisch Kranker in der Öffentlichkeit dabei eine sehr entscheidende Rolle spielt, erscheint es wichtig, die Maßstäbe des Urteils zu schärfen, von denen die Einschätzung psychisch Kranker in der Öffentlichkeit getragen wird.[6]

Für einen herrschaftsfreien Ansatz in der Psychiatrie sprach sich der französische Psychiater Frantz Fanon (1925–1961) aus.[7]

Die kritische Psychiatrie beschränkte sich zunächst auf die Realität von Patienten. So wurde seit den 1970er Jahren die Wirksamkeit von institutionell als heilsam verbrämten Behandlungsmethoden in Frage gestellt.[8] Ein wichtiger Schritt war es, die Persönlichkeit politischer Führer bzw. Funktionäre mit psychiatrischer Terminologie zu beschreiben.[9]

5 Kritik

Die Kritik an der Politischen Psychiatrie betrifft nicht nur allgemein die Aufgaben der Sozialpsychiatrie, sondern speziell auch die der vergleichenden Psychiatrie, welche die administrativen und Organisationstätigkeiten leitender Psychiater an großen psychiatrischen Einrichtungen umfasst.[10] Solche verwaltungstechnischen Aktivitäten werden auch als „technisch-administrative Tätigkeit“ bezeichnet, wobei von einer Eigenverantwortung der betroffenen Kranken abgesehen wird. In diesem Zusammenhang hat Claude Lévi-Strauss den Begriff der heißen Kulturen geprägt, die auf dem Prinzip einer sozialen Hierarchie funktionieren und sich an Beispielen wie Sklaverei, Leibeigenschaft und Klassenunterschieden verdeutlichen lassen. Dabei ist außerdem die psychologische und politische Einflussnahme des kollektiven Unbewussten (siehe Carl Gustav Jung) auf den einzelnen Kranken zu betrachten. Entsprechend der Definition für Politische Psychiatrie, in welcher der Wert des Einzelnen im Vordergrund steht, wird die Frage immer nach den Folgen für die betroffenen Kranken gestellt. Solche Fragen folgen dem Prinzip der Wissenschaftssoziologie,[11] wobei die Interaktion zwischen Psychiatrie und Politik[12] bei der politischen Psychiatrie eine zentrale Rolle spielt.

Politisch motivierter Missbrauch der Psychiatrie und ihrer Einrichtungen wurde häufig von anthropologisch ausgerichteten Psychiatern oder internationalen Organisationen angeprangert.[13] Eine besondere Schwierigkeit stellt jedoch die Anwendung solch kritischer Haltungen und Maximen im eigenen Land dar. Diese Missbrauchsvorwürfe beziehen sich meist auf Einschränkungen unveräußerlicher Persönlichkeitsrechte und Rechte auf Gleichbehandlung. Ein solches Prinzip ist auch die Sicherstellung der körperlichen und geistigen Unversehrtheit aller Menschen, wie es u. a. die Organisation Amnesty international vertritt. Es erscheint wichtig, dass solche Ziele global und nicht in rechtfertigender Absicht von einem ethnozentrischen oder kulturalistischen Standpunkt aus vertreten werden.

6 Formen der Einflussnahmen

Politische Psychiatrie
Wechselbeziehungen

Politik, Gesellschaft, kollektive Leitbilder
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Psychiatrie
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Heilkunde, individuelle Heilserwartungen
Psychiatrie und gesellschaftliche Verflechtung

Die vielfältigen politischen Verflechtungen und Überschneidungen der Politik mit der Psychiatrie und den von ihr betreuten Patienten können übersichtshalber anhand einer Abbildung näher veranschaulicht werden. Es sind hier zwei verschiedene Regelkreise einander gegenübergestellt. 1968 stellte die Ethnologin Kathleen Gough drei Instanzen heraus, die im Zusammenhang einer damals allgemeinen und immer revolutionärer werdenden Haltung und der im geschichtlichen Verlauf immer größer werdenden Bedeutung des Subjekts von Bedeutung sind. Dies sind (von unten nach oben):

  • die untersuchten Betroffenen,
  • die Kollegen des Berufsstandes der Experten sowie die der Wissenschaft,
  • die Mächte, die den jeweiligen Experten bezahlen bzw. die Forschungen an der Universität in Auftrag geben.

Auch wenn dies im ethnologischen Zusammenhang gelten sollte für politische Fragestellungen der ethnologischen Feldforschung, so gilt dies gleichfalls für die Psychiatrie, da Ethnologie und Psychiatrie als Schwesterwissenschaften bezeichnet werden können.[14]

Übereinstimmung besteht auch mit den Grundzügen der Politischen Psychologie. Sie unterscheidet Selbstdarstellung und Selbstdeutung der Politik und der offiziellen Organe des Gesundheitswesens durch den Versuch, das Wahlverhalten der Bürger positiv zu beeinflussen (Wählerpsychologie) von einer kritischen Einstellung der Individuen. Kritisch wird diese Einstellung dann, wenn erwähnte Darstellungstechniken der gesellschaftlichen Institutionen als tendenziöse und ideologisch ausgerichtete Simplifizierungen[15] oder als Ausdruck des Klassenkampfs[16] entlarvt werden. Diese Kenntnis des doppelten, janusköpfigen Gesichts der Psychiatrie ist zudem Voraussetzung für das Verständnis der Geschichte der Psychiatrie.[17]

7 Bedeutung

Die Bedeutung der Politischen Psychiatrie muss daran gemessen werden, dass psychisch Kranke einen empfindlichen Indikator für mögliche politische Prozesse darstellen. Die Beschäftigung mit solchen Fragen ist keine Beschäftigung mit den Problemen einer psychiatrischen Randgruppe, sondern mit allgemein verbreiteten psychologischen Mechanismen, die als politische Bürger jeden von uns direkt oder indirekt betreffen. Es bedarf daher einer „Aufklärungspolitik“, die den Personenkreis der Betroffenen in eine Emanzipation mit einbezieht, welche die „Befreiung aus einem Zustand der Abhängigkeit“ nicht nur vorgibt, um den eigenen Status der Deutungsmacht zu sichern, sondern offen ist für eine kritische Theorie der politisch-praktischen Umsetzung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse. Diese Offenheit verpflichtet, die Kritik gesellschaftlicher Bedingtheit von „Unmündigkeit“ auch an sich selbst zuzulassen und anzuwenden.[18] [19]

8 Siehe auch

9 Literatur

  • Storz, Dieter: Politische Psychiatrie. Verlag: Humanistische Union, Ortsverband Essen, 1980 – 27 Seiten DNB

10 Einzelnachweise

  1. Storz, Dieter: Politische Psychiatrie. – Humanistische Union, Ortsverband Essen, 1980 - 27 Seiten DNB; Seite 1 ff.
  2. Arnold, Wilhelm et al. (Hrsg.): Lexikon der Psychologie. Bechtermünz, Augsburg 1996, ISBN 3-86047-508-8, Spalte 1648 ff.
  3. Grubitzsch, Siegfried und Günther Rexilius (Hrsg.): Psychologische Grundbegriffe. Mensch und Gesellschaft in der Psychologie. Ein Handbuch. rororo rowohlts enzyklopädie 3280, Reinbek bei Hamburg 1990, ISBN 4399554380, Seite 766 ff.
  4. Schnell: Gulag als Systemstelle, S. 134.
  5. Horst E. Richter: Die Gruppe. Hoffnung auf einen neuen Weg, sich selbst und andere zu befreien. Psychoanalyse in Kooperation mit Gruppeninitiativen. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 11972, ISBN 3-498-05672-7, Seite 336.
  6. Hannah Arendt: Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie. 11985, Piper, ISBN 3-492-02824-1; Seite 115 ff.
  7. Giovanni Jervis Kritisches Handbuch der Psychiatrie. Syndikat, Autoren- und Verlagsgesellschaft, Frankfurt © 1978 Fuldaer Verlagsanstalt,31980, ISBN 3-8108-0167-4 kart., Seite 100 ff.
  8. Ivan Illich: Die Enteignung der Gesundheit. Medical Nemesis oder: Die Medizin ist zu einer Hauptgefahr für die Gesundheit geworden. Rowohlt-Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1975, ISBN 3-498-03202-X, Abhängigkeit von Medikamenten, Seite 41
  9. Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität. dva, Stuttgart, 31977, ISBN 3-421-01686-0, Seiten 251 ff. (Josef Stalin), 271 ff. (Heinrich Himmler), 335 ff. (Adolf Hitler)
  10. Peters, Uwe Henrik: Wörterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie. Urban & Schwarzenberg, München 3. Auflage 1984, Seite 434
  11. Dörner, Klaus: Bürger und Irre, Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie. [1969] Fischer Taschenbuch, Bücher des Wissens, Frankfurt / M 1975, ISBN 3-436-02101-6; zu Stw. „Politische Einigung und wirtschaftliche Entwicklung als Schrittmacher des Anstaltswesens im 19. Jahrhundert“: Seite 281 ff.; zu Stw. „Akzeptanz der Psychoanalyse“: Seite 12 unten einschl. Fußnote 4; zu Stw. „Wissenschaftssoziologie“: Seiten 19, 21, sonst gesamter Buchinhalt ohne Beschränkung, siehe Buchtitel.
  12. Freedman, A.M., H.I. Kaplan et al. (Hrsg.): Psychiatrie in Praxis und Klinik. 7 Bände; Georg Thieme Stuttgart 1991, Psychiatrische Probleme der Gegenwart I. Band 5, Begegnungen zwischen Psychiatrie und Politik, Seite 277 (Autor des Kap. ist Bertram S. Brown, Direktor des National Institute of Mental Health von 1970–1977)
  13. z. B. Deutsche Vereinigung gegen politischen Mißbrauch der Psychiatrie e. V., Amnesty international
  14. Gough, Kathleen: Des propositions nouvelles pour les anthropologues. Seite 25; In: Copans, J. (Hrsg.): Anthropologie et impérialisme. Paris 1975: Seiten 17-35
  15. Horn, K.: Bemerkungen zur politischen Konsequenz des Psychologismus psychologischer Denkmodelle und Vorschläge zu dessen Überwindung. In: Wulf, Christoph (Hrsg.): Kritische Friedenserziehung. edition suhrkamp stw 661, Frankfurt / M. 1973, ISBN 3-518-00661-4, Sachgebiet Sozialwissenschaft
  16. Brückner, Peter und A. Krovoza: Staatsfeinde. Innerstaatliche Feinderklärung in der BRD. Berlin 1972.
  17. Jervis, Giovanni: Manuale critico di psiciatria. © Giangiacomo Feltrinelli Editore, Milano 1975. dt.: Kritisches Handbuch der Psychiatrie. Athenäum, Frankfurt / M 1988, ISBN 3-610-04604-X, Seite 46.
  18. Hillmann, Karl-Heinz: Wörterbuch der Soziologie. Kröner, Stuttgart 1994, ISBN 3-520-41004-4; zu Stw. „Emanzipation“: Seite 421
  19. Pohlen, Manfred: Psychoanalyse. – Das Ende einer Deutungsmacht. rororo enzyklopädie, Reinbek bei Hamburg,11995; zu Stw. „Wilhelm Reich“ Seiten 110, 150 f., 161, 163, 167, 169; zu Stw. „Aufklärungspolitik und Deutungsmacht“: Seite 15

11 Andere Lexika

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Erster Autor: Anaxo, weitere Autoren: Mesenchym, Kai-Hendrik, Chatter, PM3, Heinte, ComillaBot, Jaelle, Exil, Wilske, ³²P, Nyks

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