Geschichte der Psychiatrie

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1535 wurde das Zisterzienserkloster Haina von Landgraf Philipp von Hessen in eine psychiatrische Anstalt umgewandelt, die noch heute weiterbesteht

Die Geschichte der Psychiatrie beginnt in Deutschland bereits während des 16. Jahrhunderts. Auf deutschem Boden wurde die Eröffnung der ersten Krankenanstalten für von psychischen Leiden Betroffene durch die Reformation begünstigt. Beispielgebend sind hier die Anstalten Haina bei Frankenberg in Hessen, 1533-1535 eröffnet in einem von Landgraf Philipp von Hessen, dem Großmütigen, im Jahre 1527 aufgelösten Zisterzienserkloster weiter die Anstalt Goddelau (ursprünglich »Hofheim«, heute »Philippshospital«) bei Riedstadt (1533) und die Anstalt Merxhausen (Emstal bei Kassel) in einem aufgelösten Augustinerkloster. Diese Gründungen können durchaus als politische Maßnahmen angesehen werden, da diese Welle der Säkularisierung durch die weltliche Macht getragen war und nicht in erster Linie gesundheitspolitische Ziele verfolgte.[1] Dabei ist abzusehen von einigen größeren Städten wie z. B. Leipzig, wo es seit 1212 ein Irren- und Siechenhaus gab, von Pforzheim, wo 1322 ein Spital »für elende und arme Siechen« errichtet wurde, sowie z. B auch von Aachen., wo es seit dem 14. Jahrhundert eine von den Alexianer-Brüdern unterhaltene Heil- und Pflegeanstalt für männliche psychisch Kranke gab. Auch in Paris, Lyon und Montpellier in Frankreich gab es ähnliche Einrichtungen seit dem 13. Jahrhundert, in denen offensichtlich antike naturalistische Traditionen fortlebten.[2]

1 Das 19. Jahrhundert

Seit 1830 erfolgte in Deutschland eine weitere Reihe von Neugründungen psychiatrischer Einrichtungen im Rahmen der industriellen Revolution. Sie war getragen von der politischen Einflussnahme des wirtschaftsliberalen Bürgertums. Das Für-und-Wider hinsichtlich dieser psychiatrischen Einrichtungen erhielt durch die Julirevolution von 1830, das Hambacher Fest 1832 und die Revolution von 1848 einen endgültigen politischen Stellenwert. Nationale Gedanken und wirtschaftliche Freiheit wie z. B. die Gründung der Zollvereine gingen damit Hand in Hand. Mit der ersten großen Gründungswelle der Fabriken 1830 bestand vermehrter Bedarf an Arbeitskräften. Die beschleunigte Gründung von Anstalten kann als Ausdruck einer sich verändernden Sozialstruktur betrachtet werden. Sie hängt mit dem Aufkommens des Arbeiterstands zusammen. Als erste deutsche psychiatrische Institution wurde 1830 die Irrenanstalt Sachsenberg bei Schwerin erbaut. Als weitere Beispiele sind Heidelberg (1826), Hildesheim (1827), Basel (1842), Kiel (1845), Köln (1854) u. v. a. m. zu nennen. Mit dieser Welle der Neugründungen setze sich die naturwissenschaftliche Sichtweise der Geisteskrankheiten zunehmend durch, die moralisierenden Ansichten der sog. Psychiker über das Wesen der psychischen Krankheit traten zurück. In Deutschland wurde die materialistische Sichtweise der körperlichen und erblichen Bedingtheit von Geisteskrankheit bestimmend.[3]

2 Das 20. Jahrhundert

Seit dem Erscheinen dieses Buchs im September 1978 gehören Selbsthilfegruppen für Betroffene zum regulären und selbstverständlichen gesellschaftlichen Erscheinungsbild[4]

Die Bereitschaft zur Eigenreflexion bzw. zur gesellschaftlichen Selbst- und Beziehungsanalyse war bei Vertretern der klassischen deutschen Psychiatrie, die sich dem Freudschen Modell bekanntlich verschlossen hat, entsprechend gering. Die Psychoanalyse erschien als eine Art von Rückfall in die romantische Medizin der Psychiker.[3] Dieser Gegensatz bestimmte auch die psychiatrische Reformbewegung der 60er und 70er Jahre (Psychiatrie-Enquête). Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, dass im deutschen Sprachraum Begriffe wie „Politik“ bzw. der „p. P.“ in psychiatrischen Fachlexika gefehlt haben, da sie zu den selbstredend vorausgesetzten Prinzipien der Angepasstheit bzw. einer „political correctness“ gehörten. Diese Haltung trug der deutschen Psychiatrie in der Zeit des Dritten Reichs weniger große Beachtung ein. Carl Schneider, beging als Direktor der Heidelberger Psychiatrischen Universitätsklinik nach dem Krieg Selbstmord. Auch andere bekannte Psychiater wie Hans Berger wählten schon während der Zeit des Nationalsozialismus diese Alternative. Die Erwartungen der sich besonders von den Grundannahmen einer klassischen deutschen Psychiatrie diskriminiert fühlenden Betroffenen zielen jedoch nicht ab auf Angepasstheit, sondern auf Emanzipation. Dies ist eine Grundforderung der Antipsychiatrie.[5] Shorter erwähnt die Psychiatrie als Vermittlerin sozialer Kontrolle im Index seines Buchs („agency of social control“). Er erwähnt auch die kulturellen und politischen Einflüsse auf die Psychiatrie („cultural and political influences on psychiatry“).[6] Das Thema „Politik“ ist jedoch auch im Zusammenhang ethnopsychiatrischer Zusammenhänge im deutschen Sprachraum geläufig.[7]

Das Thema Psychiatrie und Politik führte bereits in der Geschichte der Psychiatrie zu lebhaften, aber z. T. auch fragwürdigen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen wie z. B. zwischen Sigmund Freud und Wilhelm Reich.[8] Sigmund Freud hatte sich bereits 1930 mit dem „Unbehagen in der Kultur“ befasst, das den Verzicht behandelt, den die Kultur jedem von uns auferlegt. Diese Schrift entstand im Zusammenhang der Auseinandersetzungen zwischen Sigmund Freud und Wilhelm Reich.[9] Begründet wurde der neue therapeutische Ansatz von Thomas Szasz (1920), Erving M. Goffman (1922-1982), Michel Foucault (1926–1984), Franco Basaglia (1924–1980), Ronald D. Laing (1927–1989) und David G. Cooper (1931–1986).[6]

Reich war Gründer der „Sozialistischen Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung“. Sein Leben kann nicht als Beispiel für Angepasstheit gelten. Sein Versuch, Marxismus und Psychoanalyse zu verbinden, führte 1934 zu seinem Ausschluss aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung und aus der Kommunistischen Partei. Freud war apolitisch und stand z. B. dem Nationalsozialismus relativ unkritisch gegenüber. Er wurde zur Auswanderung aus Wien von Marie Bonaparte regelrecht gedrängt. Seine abgebrochene Freundschaft zu Heinrich Braun, einem späteren Führer der deutschen Sozialdemokratie, und sein abweisendes Verhältnis zu Otto Gross belegen seine politisch wenig aktive, eher abgeneigte Haltung. Gross hatte die gesellschaftliche und politische Bedeutung der Psychoanalyse bereits vor Wilhelm Reich betont. Er wird z. T. als erster Gesellschaftskritiker unter den Psychoanalytikern angesehen. Freud neigte dazu, die Politik auf psychologische Tatbestände zu reduzieren, was sicher eine subjektiv wünschenswerte Option darstellt, um politische Konflikte zu entschärfen, jedoch leider nicht als realitätskonforme Haltung der Allgemeinheit gelten kann, siehe auch die weiter unten angeführte Entsprechung (Parallelität) von institutionellem und familiärem Zwang.[6] [7] [10] [11]

1967 wurde die Psychoanalyse in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherungen aufgenommen.

Eine weitere leider unrühmliche Kontroverse, die jedoch die etablierte deutsche Psychiatrie betraf, war die zwischen Mitgliedern des → Sozialistischen Patientenkollektivs Heidelberg und der Psychiatrischen Heidelberger Universitätsklinik. Die Eskalation dieses Konflikts führte zu aufsehenerregenden Polizeieinsätzen. Die Bedeutung, die solchen frühen Versuchen einer Wahrnehmung von Eigenverantwortung durch Selbsthilfegruppen beigemessen werden muss, wurde hierbei eindeutig verkannt. Die Herausforderung der deutschen klassischen Psychiatrie, die einem psychopathologisch orientierten Denken verhaftet war, wurde nicht aufgenommen. Dieses Denken beruhte weitgehend auf individualpathologischen Voraussetzungen. Das wirft ein bezeichnendes Licht auf die allgemeine Lage der deutschen Psychiatrie, die sich von ihrer geschichtlich bedingten, überwiegend naturwissenschaftlichen Ausrichtung leider noch immer nicht gelöst hat. In den USA ist die Bewegung der Selbsthilfegruppen gesellschaftspolitisch bedeutend einflussreicher als in Deutschland.[12]

Sind somit aufsehenerregende Fälle in unserer Zeit wie z. B. auch der von Dieter Spazier beschriebene „Tod eines Psychiaters“ als typisch anzusehen für das politische System der Psychiatrie? Fühlen sich zu diesem System vielleicht gerade solche Personen hingezogen, die in Anpassung an diese Institutionen nicht davor zurückscheuen, unkontrollierte Macht über langfristig hilfsbedürftige Personen auszuüben und mit ihrer Hilfe auch in ihrem Privatleben narzisstische Schwäche kompensieren?[13] Die hier angesprochene Problematik gilt selbstredend auch für andere Institutionen, nicht nur für die Anstaltspsychiatrie. Allerdings ist die kollusive politische Anpassung gerade für einen als Gerichtsgutachter tätigen Psychiater besonders gefährlich. Hierdurch wird der Charakter der Psychiatrie als schillernder Machtfaktor in der Öffentlichkeit besonders deutlich. Von jeher waren in der westlichen Zivilisation die privaten und seelischen Angelegenheiten der Öffentlichkeit und Politik verschlossenen.[14]. Das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit hat hierin seine geschichtlichen Wurzeln.

3 Einzelnachweise

  1. Degkwitz, Rudolf et al. (Hrsg.): Psychisch krank. Einführung in die Psychiatrie für das klinische Studium. Urban & Schwarzenberg, München 1982, ISBN 3-541-09911-9; zu Stw. „Psychiatrische Institutionen“: Seite 270 ff.
  2. Ackerknecht, Erwin H.: Kurze Geschichte der Psychiatrie. Enke, Stuttgart 31985, ISBN 3-432-80043-6; Seite 17 f.
  3. 3,0 3,1 Dörner, Klaus: Bürger und Irre, Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie. [1969] Fischer Taschenbuch, Bücher des Wissens, Frankfurt / M 1975, ISBN 3-436-02101-6; (-,0): zu Stw. „Politische Einigung und wirtschaftliche Entwicklung als Schrittmacher des Anstaltswesens im 19. Jahrhundert“: Seite 281 ff.; (-,1): zu Stw. „Akzeptanz der Psychoanalyse“: Seite 12 unten einschl. Fußnote 4; (-,2): zu Stw. „Wissenschaftssoziologie“: Seiten 19, 21, sonst gesamter Buchinhalt ohne Beschränkung, siehe Buchtitel.
  4. Moeller, Michael Lukas: Selbsthilfegruppen . Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 11978, ISBN 3-498-04259-9
  5. AStA Heidelberg und Sozialistischer Heidelberger Studentenbund (SHS) (Hrsg.): Dokumentation zur Verfolgung des Sozialistischen Patientenkollektivs. Teil 1 und Teil 2; 73 Seiten (Teil 1) und 172 Seiten (Teil 2), 1972 mit Pressespiegel bis 22.08.1971 (Teil 1) bzw. bis 20.04.1972 (Teil 2); Bezug: Teil 1, Seite 2 (Richter-Gutachten 14.07.1970)
  6. 6,0 6,1 6,2 Shorter, Edward A historical Dictionary of Psychiatry. Oxford University Press, New York, 12005, ISBN 0-19-517668-5; (-,0): zu Stw. „Politik“: Seite 127, 24; (-,1): zu Stw. „Wilhelm Reich“: Seiten 104, 169, 217, 219; (-,2): zu Stw. „Antipsychiatrie“: Seite 22-26, insbesondere Seite 24; fernladbarer Text
  7. 7,0 7,1 Erdheim, Mario: Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozeß. suhrkamp taschenbuch wissenschaft 456, Frankfurt / Main, 21988, ISBN 3-518-28065-1; (-,0): zu Stw. „Politik“: Seiten 96, 99, 116, 131, 179, 398, 400; (-,1): zu Stw. „Heinrich Braun“: Seite 57, 61, 63.
  8. Pohlen, Manfred: Psychoanalyse. – Das Ende einer Deutungsmacht. rororo enzyklopädie, Reinbek bei Hamburg,11995; (-,0): zu Stw. „Wilhelm Reich“ Seiten 110, 150 f., 161, 163, 167, 169; (-,1): zu Stw. „Aufklärungspolitik und Deutungsmacht“: Seite 15
  9. Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur. Gesammelte Werke, Band XIV, S. Fischer Verlag , Frankfurt / M 31953
  10. Dienes, Gerhard M.: Der Mann Moses oder die Folter der Maschine. In: Ausstellungskatalog 2003 Otto Gross; zu Stw. „Otto Gross“: Seite 20.
  11. Schorske, Carl E.: Politique et parricide dans »L’interprétation des rêves de Freud«. In: Jaccard, R.: Freud, Jugements et Témoignages. Paris, 1976, Seite 101-137
  12. Küspert, Gesine A.: Streitpunkt: Krankheit. Die Kontroverse um funktionelle Syndrome zwischen Medizinern und Laien in den USA. Veröffentlicht 2006, 354 Seiten Fernladbarer Text
  13. Spazier, Dieter Der Tod des Psychiaters. Syndikat-Verlag, Frankfurt m Main, 236 Seiten; fernladbare Buchbesprechung, Spiegel 13/1983 vom 28.03.1983
  14. Arendt, Hannah: Vita activa oder vom tätigen Leben. R. Piper, München 31983, ISBN 3-492-00517-9, Seite 57 ff.

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