NS-Euthanasie

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Berlin Curves von Richard Serra auf dem Grundstück Tiergartenstraße 4 (Bestandteil der Erinnerung an die Aktion T4)
Foto: Mutter Erde

Als Beginn der NS-Euthanasie-Aktion gilt der Befehl Adolf Hitlers vom 1. September 1939 an den Reichsleiter Philipp Bouhler. Aktion T4 wurde nach dem Zweiten Weltkrieg eine gebräuchliche Bezeichnung für die systematische Ermordung von Menschen, welche die NS-Ideologie als „unwertes Leben“ betrachtete.

Der Name T4 beruht auf dem Ort der Planung der halbstaatliche Sonderverwaltung, die formal dem Hauptamt II der Kanzlei des Führers unterstellt wurde und ab April 1940 in einer Villa in der Berliner Tiergartenstraße 4 untergebracht war. Diese Zentraldienststelle T4 war nach außen hin weiter in selbständige Institutionen untergliedert.

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1 Die Ermächtigung

Das Ermächtigungsschreiben hatte folgenden Wortlaut:

„Adolf Hitler
Berlin, den 1. September 1939
Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.
(Unterschrift A.Hitler)“[1]

Handschriftlich wurde darunter vermerkt: „Von Bouhler mir übergeben am 27.8.40 - Dr. Gürtner“[2]

2 Grundlagen

Die Lehrmeinungen von Karl Binding und Alfred Hoche haben sich die Nationalsozialisten zu eigen gemacht. Diese beiden Autoren veröffentlichten im Jahre 1920 ein Buch mit dem Titel Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Sie schrieben darin u.a.:

„...
Die Rechtssprechung hat nicht die Pflicht, folgende Leben weiter zu schützen
1. die zufolge Krankheit oder Verwundung unrettbar Verlorenen, die im vollen Verständnis ihrer Lage den dringenden Wunsch nach Erlösung besitzen und ihn in irgendeiner Weise zu erkennen gegeben haben.
...“

– Binding/ Hoche: "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens"; S. 29

„...
2. Die zweite Gruppe besteht aus den unheilbar Blödsinnigen - einerlei ob sie so geboren oder etwa wie die Paralytiker im letzten Stadium ihres Leidens so geworden sind. Sie haben weder den Willen zu leben, noch zu sterben.
...“

– Binding/ Hoche: "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens"; S. 31

Alfred Hoche schreibt gar von Ballastexistenzen, welche gegenüber dem Ganzen an Bedeutung verlören. Dieser sozialdarwinistische Gedankengang wurde auch in "Mein Kampf" von Hitler dargestellt.

3 Gesetzliche Regelungen

Da dieses Gedankengut auf fruchtbaren Boden fiel, wurde zunächst eine Kindereuthanasie eingeführt. Ab 18. August 1939 bestand eine Meldepflicht für missgebildete Kinder bis zum Alter von 3 Jahren für Ärzte und Hebammen.

Die erfassten Kinder wurden, teilweise sogar ohne die Einwilligung der Eltern, auf spezielle Stationen des Reichsausschusses zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden, den sogenannten Kinderfachabteilungen, verlegt.

Die Tötung dieser "lebensunwerten" Kinder erfolgte durch Morphium-Hydrochloral, Luminal oder einfach durch Nahrungsentzug bzw. einseitiger Ernährung.

Zugleich mit dem Beginn des Krieges am 1. September 1939 begann die Erfassung und Sammlung der "lebensunwerten" Menschen.

Seit Juli 1933 war das Reichsgesetz "zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" verkündet. Nach diesem Gesetz sollten "Schwachsinnige", Schwerbehinderte, Blinde und Taube unfruchtbar gemacht werden. Dies war auch ganz im Sinne der Rassenhygiene.

Gemäß dem Zwangssterilisationsgesetz konnten Erbgesundheitsgerichte entscheiden, zumeist ohne den Betroffenen überhaupt gesehen zu haben, über Anträge zur Unfruchtbarmachung. In Fließband-Arbeit wurden die Anträge behandelt. Meist hieß es nach wenigen Minuten: "Der oben genannte Proband ist unfruchtbar zu machen."

4 Organisation T4

Karl Brandt, einer der Ärtze, welche von Adolf Hitler, zur "Gnadentod"-Erteilung ermächtigt wurde, begann mit dem organisierten Ermorden. Organisiert wurde es von einem Berliner Haus in der Tiergartenstraße 4. Später wurde nicht mehr von "Euthanasie" sondern von der "T4"-Aktion gesprochen.

4.1 Beispiel Hadamar

Insgesamt 10.072 Menschen mit Behinderungen wurden in Hadamar, in der Zeit von Januar 1941 bis August 1941, teilweise in einem Keller durch Gas ermordet. Der letzte Weg führte eine Treppe hinunter in den Keller. 50 bis 60 Personen wurden in den kleinen, 14 qm großen "Duschraum" geschickt. Kaum einer der Menschen erkannte, dass nun die letzten Minuten seines Lebens begonnen hatten, denn es strömte kein Wasser, sondern Kohlenmonoxid aus den Duschköpfen. Das ist ein geruchloses Gas. Übelkeit, Sehstörungen, Schwindel und plötzliche Müdigkeit traten auf. Die ersten sterben innerhalb weniger Minuten. Da einige bemerkten, was wirklich geschah, kam auch Erregung auf. Nach etwa einer Stunde wurde das Gas wieder abgelassen und Frischluft zugeführt. Die sogenannten "Brenner" hatten die Aufgabe, die Leichen auf einen Schienenwagen zu legen und zu den zwei großen Krematoriumsöfen zu bringen, wie sie später auch in den Konzentrationslagern aufgebaut wurden.

Einigen der Toten wurden aber im Sezierraum zu Forschungszwecken zuvor das Gehirn entnommen.

Heute sind diese Kellerräume Bestandteil einer Gedenkstätte.

4.2 Beispiel Grafeneck

In der Anstalt Grafeneck, die im Landkreis Reutlingen liegt, wurden 10.654 behinderte Menschen ermordet, die aus Bayern, Baden und Württemberg sowie Hessen und Nordrhein-Westfalen hierher geschickt worden waren. Eins der zuständigen Gesundheitsämter war in Schwäbisch Hall und wurde von einem Walter Gmelin (Hall) geleitet. In seinem Bereich wurden rund 200 Sterilisationen durchgeführt.[3]

4.3 Weitere "T4"-Vernichtungsanstalten

Insgesamt bis zum Ende der "offiziellen" "T4"-Aktion im August 1941 wurden über 71.000 Menschen ermordet.

Die folgende Tabelle gibt eine Übersicht der Opferzahlen der T4-Anstalten.

Anstalt 1940 1941 Summe
A (Grafeneck) 9.839 9.839
(10.654[4])
B (Brandenburg) 9.772 9.772
Be (Bernburg) 8.601 8.601
C (Hartheim) 9.670 8.599 18.269
D (Sonnenstein) 5.943 7.777 13.720
E (Hadamar) 10.072 10.072
gesamt 35.224 35.049 70.273

Eine erhalten gebliebene interne T4-Statistik, die so genannte Hartheimer Statistik, überliefert die genauen Daten der in den „Anstalten“ 1940 und 1941 bis zum 1. September 1941 „desinfizierten“ Menschen:[5]

5 Verantwortliche Personen

In den Innenministerien waren folgende Beamte verantwortlich: Ludwig Sprauer für das Land Baden, Otto Mauthe für das Land Württemberg und Eugen Stähle für die Tötungsanstalt Grafeneck.

T4-Tötungsanstalt Tötungsärzte Funktion Zeitraum
Hadamar

Ernst Baumhard

Friedrich Berner

Curt Schmalenbach

Adolf Wahlmann

Günther Hennecke

Bodo Gorgaß

Leiter

Leiter

Leiter

Leiter

Stellvertreter

Stellvertreter

Januar 1941 bis Juni 1941

Juni 1941 bis August 1941

Dezember 1941 bis Juli 1942

5. August 1942 bis April 1945

13. Januar 1941 bis Juni 1941

18. Juni 1941 bis August 1941

Grafeneck

Horst Schumann

Ernst Baumhard

Günther Hennecke

Leiter

Stellvertreter

Stellvertreter

Januar 1940 bis Ende Mai/Anfang Juni 1940

Januar 1940 bis April 1940, dann leitender Arzt bis Dezember 1940

25. April 1940 bis Dezember 1940

6 Widerstand aus der katholischen Kirche

Beendet wurde die offizielle" T4-Aktion durch eine engagierte Predigt des Münsteraner Bischofs Clemens August Graf von Galen in St. Lamberti zu Münster am 3. August 1941.[6]

Es sagte unter anderem:

„...
Wenn man den Grundsatz aufstellt und anwendet, daß man den "unproduktiven" Mitmenschen töten darf, dann wehe uns allen, wenn wir alt und altersschwach werden!
Wenn man die unproduktiven Mitmenschen töten darf, dann wehe der Invaliden, die im Produktionsprozeß ihre Kraft, ihre gesunden Knochen eingesetzt, geopfert und eingebüßt haben!
Wenn man die unproduktiven Mitmenschen gewaltsam beseitigen darf, dann wehe unseren braven Soldaten, die als schwer Kriegsverletzte, als Krüppel, als Invaliden in die Heimat zurückkehren.

Wenn einmal zugegeben wird, daß Merschen das Recht haben, "unproduktive" Mitmenschen zu töten, und wenn es jetzt zunächst auch nur arme, wehrlose Geisteskranke trifft, dann ist grundsätzlich der Mord an allen unproduktiven Menschen, also an den unheilbar Kranken, der arbeitsunfähigen Krüppeln, den Invaliden der Arbeit und des Krieges, dann ist der Mord an uns allen, wenn wir alt und altersschwach und damit unproduktiv werden, freigegeben.

Dann braucht nur irgendein Geheimerlaß anzuordnen daß das bei den Geisteskranken erprobte Verfahren auf andere "unproduktive" auszudehnen ist, daß es auch bei den unheilbar Lungenkranken, bei den Altersschwachen, bei den Arbeitsinvaliden, bei den schwerkriegsverletzten Soldaten anzuwenden ist.
Dann ist keiner von uns seines Lebens mehr sicher.
Irgendeine Kommission kann ihn auf die Liste der "unproduktiven" setzen, die nach ihrem Urteil "lebensunwert" geworden sind.
Und keine Polizei wird ihn schützen und kein Gericht seine Ermordung ahnden und den Mörder der verdienten Strafe übergeben.
Wer kann dann noch Vertrauen haben zu einem Arzt?
Vieleicht meldet er den Kranken als "unproduktiv" und erhält die Amnweisung, ihn zu töten?“

7 "Offizielles" Ende - und doch geht es weiter

Nach Ausagen des Historikers Götz Aly war der öffentliche Protest von Clemens August Graf von Galen der entscheidende Anstoß für Hitler, die Aktion vorläufig einzustellen, jedoch nicht der alleinige Grund.[7] Offiziell wurde das Euthanasieprogramm schließlich als beendet erklärt. Doch insgeheim lief es weiter. Es sollten, bis zum Kriegsende, noch über weitere 80.000 Menschen werden.

8 Aufarbeitung und Gedenken

"Mensch, achte den Menschen"
Gedenkstele auf dem Friedhof der NS-Euthanasieopfer bei der NS-Gedenkstätte Hadamar (bei Limburg/ Lahn

In Hadamar befindet sich, ganz in der Nähe der Gedenkstätte, der Friedhof, auf dem die damals Ermordeten begraben wurden. Ein schmaler Weg aus Steinplatten führt über den Friedhof. Vorbei an Grabsteinen, welche die großen Weltreligionen symbolisieren hin zu einer Gedenkstele. „Mensch achte den Menschen“, steht dort. Ob diesem Grundsatz in der Tat Rechnung getragen wurde, indem heute in unmittelbarer Nähe der Gedenkstätte ein Maßregelvollzug errichtet wurde, der durch seine hohen Stacheldrahtzäune imponiert, diese Frage ergibt sich auch heute noch. Der Psychiater Manfred Lütz hat die Frage auch anders gestellt. Dürfen psychiatrische Diagnosen überhaupt gestellt werden, wenn dies eindeutig gegen den Willen des Betroffenen erfolgt?[8]

Als in Hadamar der neue Maßregelvollzug errichtet wurde, demonstrierten Tausende gegen diese politische Entscheidung.

Bodentafel auf dem Grundstück der Tiergartenstraße 4 in Berlin, Aktion T4
Foto: Mutter Erde


9 Siehe auch

10 Quellen

Die erste Textversion dieses Artikels entstammt aus einem Manuskript für eine Internet-Radiosendung, gesendet am 07.09.2004 auf "five-Radio", dqb656.de, die urheberrechtliche Genehmigung ist gegeben.

10.1 Literatur

  • Ernst Klee: Euthanasie im NS-Staat; Überarbeitete Neuausgabe Nov. 2010, S. Fischer Verlag GmbH, ISBN: 978-3-596-18674-7

10.2 Einzelnachweise

  1. Faksimile des Ermächtigungsschreibens auf Wikimedia-Commons
  2. Franz Gürtner war Reichsjustizminister von 1932 bis zu seinem Tod 1941, Philipp Bouhler war SS-Obergruppenführer und Leiter der Kanzlei des Führers
  3. https://www.swp.de/suedwesten/staedte/schwaebisch-hall/ns-zeit_-182-bewohner-des-gottlob-weisser-hauses-fallen-euthanasie-zum-opfer-20490263.html
  4. Gedenkstätte Grafeneck: „Euthanasie“-Verbrechen in Südwestdeutschland – Grafeneck 1940. (abgerufen am 21. Juni 2009)
  5. Hartheimer Statistik, abgedruckt in: Ernst Klee, Dokumente, Dok. 87, S. 232
  6. Leseraum der Universität Innsbruck
  7. Götz Aly (Hrsg.): Aktion T4 1939–1945…. S. 90
  8. Manfred Lütz: Irre! - Wir behandeln die Falschen – Unser Problem sind die Normalen. Eine heitere Seelenkunde. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 12009, ISBN 978-3-579-06879-4; Interview mit dem Autor unter dem Datum vom 31.01.2010

11 Weblinks

12 Vergleich zu Wikipedia




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