Kanzlerakte

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Ein offenbar gefälschtes Schreiben aus dem Jahr 1992 mit Bezug auf einen „geheimen Staatsvertrag“ von 1949, zu dem auch die sogenannte „Kanzlerakte“ gehören soll

Die Kanzlerakte ist in ihrer plakativsten Beschreibung ein angebliches deutsches Regierungsdokument, dessen Existenzvorstellung als Verschwörungshypothese zu bezeichnen ist und u. a. belegen soll, dass Deutsche seit Kriegsende 1945 als „unfreie Bürger“ unter dem „Diktat fremder Mächte“ stehen. Spätestens seit der Wiedervereinigung Deutschlands ist diese Hypothese gegenstandslos.

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1 Angebliche Belege zur Existenz

Ein Schreiben eines „Staatsministers Dr. Rickermann“ vom Bundesnachrichtendienst (BND), das seit Jahren im Internet kursiert, soll gemäß einem Bearbeitungsvermerk aus dem Jahr 1992 datieren. Es ist an einen nicht namentlich genannten Minister gerichtet und informiert diesen darüber, dass die die Kopie Nr. 4 eines geheimen Staatsvertrages zwischen der provisorischen Regierung Westdeutschlands und den Alliierten vom 21. Mai 1949 verloren gegangen sei. Inhalt dieses Staatsvertrages sei, dass

  • die Alliierten bis zum Jahre 2099 die Medienhoheit in Deutschland besitzen;
  • die sogenannte Kanzlerakte von jedem Bundeskanzler auf Anordnung der Alliierten vor seinem Amtseid zu unterzeichnen ist;
  • die Pfändung der Goldreserven der Bundesrepublik Deutschland durch die Alliierten erfolgt ist.

Zweifler an der Echtheit dieses Schreibens halten es für eine schlichte Fälschung halten und führen auf, dass

  • zum Zeitpunkt der angeblichen Abfassung des geheimen Staatsvertrags die Bundesrepublik Deutschland noch gar nicht gegründet war und es eine provisorische Regierung Westdeutschlands nie gab
  • es Staatsminister im BND weder gab noch gibt. Staatsminister sind die Parlamentarischeren Staatssekretäre im Bundeskanzleramt und im Auswärtigen Amt. Der BND wird von einem Berufsbeamten geleitet. Auch außerhalb des BND gab es keinen Staatsminister namens Rickermann.
  • ein mit Schreibmaschine gefertigter Briefkopf für eine obere Bundesbehörde im Jahre 1992 (Datum der Unterschrift) eher unüblich sei
  • der Inhalt impliziere, die Empfänger hätten schon Kenntnis von diesem geheimen Staatsvertrag. Eine nochmalige schriftliche Ausfertigung einer Inhaltsangabe würde aber das Risiko der Aufdeckung unnötig erhöhen
  • der Absender keine Bearbeitungshinweise für den Empfänger vorgeben würde, da dieser dies in eigener Regie entscheide, was mit dem Dokument geschehe. Die Bearbeitungsvermerke seien neben dem Eingangsstempel ein Beleg dafür, dass der Empfänger das Dokument tatsächlich erhalten habe.
  • mehrere Rechtschreibfehler existieren, welche auf dieser formellen Ebene nicht vorkommen sollten
  • die Geheimhaltungsstufe Verschlusssache – nur für den Dienstgebrauch die niedrigste Geheimhaltungsstufe ist, zu der die Angabe amtlich geheimgehalten und die mehrfach betonte strengste Vertraulichkeit eines Schreibens nur für Minister nicht passe. Bei der Angabe der Geheimhaltungsstufe würden auch die Vorgaben der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum materiellen und organisatorischen Schutz von Verschlusssachen, kurz VSA[1] missachtet.

Gerd-Helmut Komossa war von 1977 bis 1980 Leiter des Amtes für den Militärischen Abschirmdienst und der Nachfolgeorganisation Militärischer Abschirmdienst (MAD) sowie Vorsitzender der Gesellschaft für die Einheit Deutschlands e.V. In seinem im Juli 2007 veröffentlichten Buch Die deutsche Karte – Das verdeckte Spiel der geheimen Dienste. Ein Amtschef des MAD berichtet, erschienen im politisch als rechtsgerichtet geltenden Ares-Verlag, ISBN 978-3-902475-34-3, geht er auf das o.g. Schreiben auf Seite 21 f. ein:

„Der Geheime Staatsvertrag vom 21. Mai 1949 wurde vom Bundesnachrichtendienst unter ‚Strengste Vertraulichkeit‘ eingestuft. In ihm wurden die grundlegenden Vorbehalte der Sieger für die Souveränität der Bundesrepublik bis zum Jahre 2099 festgeschrieben, was heute wohl kaum jemandem bewußt sein dürfte. Danach wurde einmal der ‚Medienvorbehalt der alliierten Mächte über deutsche Zeitungs- und Rundfunkmedien‘ bis zum Jahre 2099 fixiert. Zum anderen wurde geregelt, daß jeder Bundeskanzler Deutschlands auf Anordnung der Alliierten vor Ableistung des Amtseides die sogenannte ‚Kanzlerakte‘ zu unterzeichnen hatte. Darüber hinaus blieben die Goldreserven der Bundesrepublik durch die Alliierten gepfändet.“

Egon Bahr war von 1972 bis 1976 Minister in der Regierung Willy Brandt. 2009 berichtete er in der Zeit von einem „Unterwerfungsbrief“, den Bundeskanzler Brandt vor seinem Amtsantritt gegenüber den westlichen Siegermächten zu unterzeichnen hatte. So sagte er:

„Brandt war wichtiger, zu berichten, was ihm »heute passiert« war. Ein hoher Beamter hatte ihm drei Briefe zur Unterschrift vorgelegt. Jeweils an die Botschafter der drei Mächte – der Vereinigten Staaten, Frankreichs und Großbritanniens – in ihrer Eigenschaft als Hohe Kommissare gerichtet. Damit sollte er zustimmend bestätigen, was die Militärgouverneure in ihrem Genehmigungsschreiben zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 12. Mai 1949 an verbindlichen Vorbehalten gemacht hatten. Als Inhaber der unkündbaren Siegerrechte für Deutschland als Ganzes und Berlin hatten sie diejenigen Artikel des Grundgesetzes suspendiert, also außer Kraft gesetzt, die sie als Einschränkung ihrer Verfügungshoheit verstanden. Das galt sogar für den Artikel 146, der nach der deutschen Wiedervereinigung eine Verfassung anstelle des Grundgesetzes vorsah. […] Brandt war empört, dass man von ihm verlangte, einen solchen ‚Unterwerfungsbrief‘ zu unterschreiben. Schließlich sei er zum Bundeskanzler gewählt und seinem Amtseid verpflichtet. Die Botschafter könnten ihn wohl kaum absetzen! Da musste er sich belehren lassen, dass Konrad Adenauer diese Briefe unterschrieben hatte und danach Ludwig Erhard und danach Kurt Georg Kiesinger.“[2]

Gerade dieses Zitat wird von Kreisen, die an die Existenz der Kanzlerakte glauben, als Beweis angeführt, auch wenn Bahr selbst den Begriff Kanzlerakte nicht verwendet.[3] Zu beachten ist, dass die Bundesrepublik bis 1991 den Regelungen des Deutschlandvertrages unterworfen war, was Einschränkungen der Souveränität bedeutete. Diese wurden erst mit dem "Zwei-plus-Vier-Vertrag", der nach seiner endgültigen Ratifizierung 1991 in Kraft trat, aufgehoben:

„Die Französische Republik, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland und die Vereinigten Staaten von Amerika beenden hiermit ihre Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes. Als Ergebnis werden die entsprechenden, damit zusammenhängenden vierseitigen Vereinbarungen, Beschlüsse und Praktiken beendet und alle entsprechenden Einrichtungen der Vier Mächte aufgelöst.[4]

Offenbar ließen sich die Westalliierten von jedem Kanzler bis zum Inkrafttreten des Zwei-plus-Vier-Vertrages bestätigen, dass er die Bestimmungen des Deutschlandvertrages beachten werde. Rein rechtlich wäre das nicht erforderlich gewesen, da die Bestimmungen auch ohne die Bestätigung des jeweiligen Kanzlers gegolten hätten. Selbst das ist aber kein Beweis für die Existenz des angeblichen geheimen Staatsvertrages. Nach Abschluss des Zwei-plus-Vier-Vertrages war eine solche zusätzliche Versicherung des Kanzlers gegenstandslos. Dennoch wird unter Bezug auf das Bahr-Zitat behauptet, dass die Kanzlerakte nach wie vor von jedem Kanzler zu unterzeichnen wäre.[5]

2 Bewertung im 21. Jahrhundert

Eine Anfrage der politischen Kommunikationsplattform „Direkt zur Kanzlerin“ an die Bundeskanzlerin Angela Merkel erhielt am 19. November 2007 eine Stellungnahme des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung:

„Sehr geehrter Herr […], vielen Dank für Ihre Anfrage, die wir im Auftrag der Bundeskanzlerin beantworten.
Der ‚geheime Staatsvertrag‘, den Sie erwähnen, ist dem Reich der Legenden zuzuordnen. Diesen Staatsvertrag gibt es nicht. Und die Bundeskanzlerin musste selbstverständlich auch nicht auf Anordnung der Alliierten eine sogenannte ‚Kanzlerakte‘ unterschreiben, bevor sie ihren Amtseid ablegte. Die erbetene kurze Antwort lautet daher: Nein.
Mit freundlichen Grüßen, Ihr […], Presse- und Informationsamt der Bundesregierung“[6]

Egon Bahr war 87 Jahre alt, als er den Text schrieb, aus dem das o.a. Zitat stammt. Das von ihm genannte Datum 12. Mai 1949 für ein Genehmigungsschreiben liegt 11 Tage vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes. Der Wortlaut dieses Genehmigungsschreiben wurde veröffentlicht. Es enthält tatsächliche einige Vorbehalte und Beschränkungen, aber ansonsten nur Interpretationen. Die Aussage, wonach „Artikel des Grundgesetzes suspendiert, also außer Kraft gesetzt“ wurden, trifft nicht zu.

3 Weblinks

  • Holger Berwinkel: Die „Kanzlerakte“: eine offensichtliche Aktenfälschung. In: Aktenkunde vom 14. April 2014 (online)
  • Text des Schreibens vom 12. Mai 1949

4 Einzelnachweise

  1. http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Themen/Sicherheit/SicherheitAllgemein/VSA.pdf?__blob=publicationFile
  2. http://www.zeit.de/2009/21/D-Souveraenitaet
  3. Jürgen Elsässer: Der Schwindel mit der Kanzlerakte, COMPACT-Magazin am 31. Oktober 2012, abgerufen am 15. Februar 2015.
  4. Artikel 7 des Vertrages über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung, abgerufen am 11. Februar 2015.
  5. Joachim Petrick: SNOWDOWN der Kanzlerakte, dank EDWARD, Der Freitag am 16. April 2014
  6. http://www.direktzu.de/kanzlerin/messages/mussten-sie-diese-kanzlerakte-unterzeichnen-13569

5 Andere Lexika

Wikipedia kennt dieses Lemma (Kanzlerakte) vermutlich nicht.




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