Tsen Brider
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Tsen Brider ist ein ungefähr 120 Jahre altes jiddisches Volkslied. In ihm geht es um zehn Juden, die verschiedenen Handelstätigkeiten nachgehen und nacheinander umkommen. Es ist ein trauriges und sozialkritisches Lied, welches die zunehmende Verarmung der osteuropäischen Juden thematisiert. Das Lied wurde auch auf die Ereignisse des Holocaust umtextiert, und ab den 1970er-Jahren häufig eingespielt und damit relativ populär. Wie bei den meisten Volksliedern gibt es auch von diesem Lied verschiedene textliche und musikalische Varaianten.
Inhaltsverzeichnis
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1 Entstehung und Verbreitung
- Für das Jahr 1868 ist in den USA erstmalig in Niederschrift von Septimus Winner das Lied Ten Little Injuns (Zehn kleine Indianer) überliefert. Dies wurde ein Jahr später auf Ten Little Niggers umgereimt. Das Lied war bald auch in England bekannt. In Deutschland wurde es 1885 als Zehn kleine Negerlein erstmalig von F. H. Benary veröffentlicht. [1]
- Das Lied könnte osteuropäischen Juden bald bekannt gewesen sein. In Russland tauchen jedenfalls bald darauf Varianten des Liedes auf, bei denen die zehn Neger durch zehn Juden ersetzt sind.
- Die erste schriftliche Aufzeichnung der Tsen Brider befindet sich, allerdings ohne Noten, in Yevreyskiye narodnïye pesni v Rossii, die Saul Ginsburg und Pesah Marek 1901 in St. Petersburg herausgegeben haben. [2]
- Mit Noten tauchen die Tsen Brider erstmals in Susman Kisselgofs Sammlung lider samelbuch far der jidisher shul un familie, erschienen 1911 im JUWAL-Verlag Berlin, im dreistimmigem Chorsatz auf. [3]
- Die erste deutsche Version des Liedes erschien im Jahr 1907 in der Zeitschrift Ost und West in Belin unter dem Titel Oi! Jossel mit dem Fiedel. [4]
- 1917 publizierte A. Zhtomersky eine umarragierte Version des Liedes im bei Juwal in Berlin erschienenen Lider-Zamelbuch.
- In England erschien das Lied unter dem Titel Ten little Brothers. Im Jahr 1965 erschien es erneut im Buch The New Jewish Songbook von Harry Coopersmith. [5]
- Der Refrain des Liedes wurde im Jahr 1936 im US-amerikanischen Film Yidl mit’n Fidl verwandt.
- Der polnisch-jüdische Dirigent und Komponist Martin Rosenberg schrieb den Text, allerdings mit einer ganz anderen Melodie, im Jahr 1942 im Konzentrationslager Sachsenhausen in Bezug auf den Holocaust unter dem Titel Jüdischer Todessang um. In seinem Text sterben die zehn Juden alle durch Gas. Dieses Lied hat nach 1945 ein Mitgefangener Rosenbergs, Alexander Kulisiewicz, aus der Erinnerung aufgezeichnet und aufgenommen. [6]
- Der Refrain des Liedes wurde im Jahr 1936 im US-amerikanischen Film Yidl mit’n Fidl verwandt.
- Ab den 1970er-Jahren wird das Lied Tsen Brider dann in Deutschland bekannter. Die Gruppe Hein + Oss hat es im Jahr 1976 Live in Göttingen gespielt. [7] Im Jahr 1979 hat es die Gruppe Zupfgeigenhansel auf ihrem Album Jiddische Lieder ('ch Hob Gehert Sogn) eingespielt. [8] Unter dem Namen Ghetto-Lied singt es z.B. Peter Rohland auf seinem Album Un As Der Rebbe Singt – Jiddische Lieder aus dem Jahr 1986. Der jüdische Weltklasseklarinettist Giora Feidman hat es im Jahr 1995 mit dem NDR-Chor auf dem Album The Soul Chai rein instrumental eingespielt. [9]
2 Formaler Aufbau
- Das Lied ist formal aus zwei bzw. drei Bestandteilen zusammengesetzt:
- Der Kernerzählung in Gestalt von 10 Strophen, in denen nacheinander von jedem einzelnen der zehn Juden berichtet wird.
- Dem Refrain, in dem zwei Juden, Schmerel und Tewje genannt, aufgefordert werden musikalisch aufzuspielen. In den Refrain eingeflochten ist der Ausruf "Oy oy oy oy oy, oy oy oy oy oy". Der Refrain tritt immer nach jeweils zwei Strophen auf.
3 Text
- Der jiddische Text ist in folgendem Bild dargestellt. Bis auf wenige Worte ist der jiddische Text auch ohne Übersetzung in das Deutsche leicht verständlich. Die Strophe lautet jeweils:
- Zehn Brüder sind wir mal gewesen
- Wir haben gehandelt mit X
- Einer ist von uns gestorben
- Da waren wir nur noch (10, 9 ... 2, 1)
- Bei den Handelswaren (X) ist folgendermaßen zu übersetzen: vayn=Wein, frakht=Fracht, ribn= Rüben, gebeks=Backwaren, shtrimp=Strümpfe, bir=Bier, hay=Heu, blay=Blei, bayner=Bein, likht=Licht.
- Der gleichbleibende Refrain ist zu übersetzen mit:
- Schmerel mit der Fidel und Tewje mit dem Bass
- Spielt uns doch ein Liedchen, hier mitten auf der Gass'
- Oy oy oy oy oy, oy oy oy oy oy
- Spielt uns doch ein Liedchen, hier mitten auf der Gass'
- Die Strophe ist immer ein Vierzeiler. Dabei reimt sich immer der jeweilige Beruf und die verbleidende Anzahl der Juden, also das Endwort der 2. Zeile auf das der 4. Zeile, was einen Kreuzreim ergibt. So reimt sich in der 1. Strophe vayn auf nayn, in der 2. Strophe frakht auf akht, und in der 2. Strophe ribn auf zibn.
- Der Refrain ist dreizeilig. Dabei reimt sich das Endwort der ersten Zeile (bas) auf das der dritten Zeile (gas).
3.1 Textvarianten
- Anstatt den Namen Shmerl und Tevye für die beiden Klezmermusiker gibt es auch Liedversionen, in denen sie z.B. Yosl und Tevye, Shmerl und Yekl, Shmerl und Cheikl oder Shmerl und Berl heißen.
- In einer Version aus dem Jahr 1924 sterben die Brüder nicht, sondern erleiden nur berufliche Rückschläge/Unfälle (der Weinhändler wird z.B. betrunken). Der letzte Bruder heiratet eine Nichtjüdin und sieht sich nun nicht mehr als Jude. Zu Schluss des Liedes heißt es hier dann:
- "Eyn bruder bin ikh mir,
- Hob ikh mikh ferlibt in a meydel,
- a sheyner,
- Hob ikh mir a shikse genumen,
- Ikh gebliben keyner." [11]
- In der Version von Coopersmith aus dem Jahr 1965 spielen die Musiker in den einzelnen Strophen abwechselnd andere Instrumente als Fidel und Bass, wie z.B. Klavier, Fagott, Trompete, Saxophon, Pfeife oder Gong. [12]
3.2 Mögliche Textinterpretationen
- Im Gegensatz zum Lied Zehn kleine Negerlein, in dem die zehn Neger jeweils etwas verschiedenes erleben und an einer unterschiedlichen Todesursache versterben, haben die zehn Juden in Tsen Brider verschiedene Handelsberufe und verscheiden alle ohne genaue Angabe der Todesursache. Es werden pro Strophe also nur die jeweilige Zahl der Überlebenden und die Handelsware verändert.
- Dass die zehn Juden alle Handelstätigkeiten ausüben, passt zu den Tätigkeiten die ihnen in christlichen Gesellschaften traditionellerweise erlaubt waren. So gibt es im Lied z.B. keine jüdischen Handwerker, Bauern, Polizisten oder Politiker.
- Dass die jüdischen Händler in dem Lied alle sterben, hat Joshua R. Jacobson als Darstellung des zunehmenden Niedergangs des Handels in Russland gegen Ende des 19. Jahrhunderts gedeutet. Die beginnende Industrialisierung in Osteuropa zwang Millionen von Juden und Nichtjuden zur Auswanderung, da man vom traditionellen Kleinhandel kaum noch leben konnte. So stammten zwischen 1880 und 1924 beispielsweise 75% der zwei Millionen jüdischer Einwanderer in den USA aus Russland.
- Gegen Ende des Liedes deuten auch die Handwerksberufe auf den Tod hin. Der vorletzte Jude handelt mit Knochen (bayn), und der letzte Jude mit Licht (likht) [14].
- Im Refrain werden mit Violine und Bass die beiden unentbehrlichen Instrumente der im damaligen Russland weit verbreiteten Klezmer-Ensemble genannt. Wenn diese Klezmergruppen gerade kein Engagement, z.B. bei Hochzeiten hatten, spielten sie auf der Straße auf. Für eine Interpretation dieses Textabschnitts (auch angesichts der im Gegensatz zur Striphe ganz anders gestalteten Musik; siehe dazu den nächsten Artikelabschnitt) gibt es verschiedene Möglichkeiten. Man kann es als Ironie angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Situation und der Todesfälle begreifen, aber auch als Verdrängung der realen Probleme mittels einer Flucht in fröhliches Musizieren. Außerdem kann man das Aufspielen der Klezmerkapelle auch als eine Art von trotziger Beerdigungsmusik deuten. [15]
4 Musik
- Die Strophe besteht aus zwei Viertaktgruppen. Mit der häufigen Wiederholung eines Tones und der geringen melodischen Auf- und Abwärtsbewegung hat die Strophe etwas rezitativartiges, was auch an an synagogalen Vortrag erinnern kann. Die Strophe wird meist sehr stark im Rubato (dh. mit Verlängerung oder Verkürzung im Spielen von Tondauern bzw. starken individuellen Temposchwankungen, d.h. starker Agogik) vorgetragen, und wird ohne strengen Rhythmus, häufig nur von wenigen Gitarrenakkorde begleitet, gespielt. Diese individuelle Agogik spiegelt sich auch in unterschiedlichen schriftlich fixierten und musikalisch vorgetragenen Versionen nieder. Ares Rolf und Ulrich Tadday schreiben dazu u.a.:
- "In Verbindung mit der liturgischen Melodieführung hat die Aufzählung der Ereignisse etwas Montones, ja Litaneiartiges, zugleich auch Seelen- bis Gefühlloses an sich." [16]
- Der Refrain besteht aus einem Viertakter, der wiederum in zwei Zweitakter zerfällt. Im ersten Zweitakter dominieren Terzsprünge, und im zweiten Tonwiederhulongen. Der Viertakter wird dann einmal wiederholt. Dazu kommt der zweitaktige Ausruf oy oy oy oy. Nach Refrain und oy oy oy-Ausrufen folgt noch ein Viertakter des Refrains mit Sekundauf- und Abstiegen. Der Refrain steht in starkem Kontrast zur Strophe. Er wird i.a. im durchgehenden Rhythmus (2/4-Takt) vorgetragen. Es dominieren Terzschritte und ein einfacher, aus wenigen Harmoniewechseln bestehender Ablauf. Es werden nun meist auch mehr Instrumente (gerne solche die zum Text einer Klezmergruppe passen) eingesetzt.
- Das Tempo wird im Verlauf des Refrains gerne beschleunigt, was der Tradition von Klezmermusik entgegenkommt. Besonders auffällig sind die Temposchwankungen im Refrain z.B. in der Version von Zupfgegeigenhansel, wo der Refrain zu Ende circa doppelt so schnell wie am Anfang vorgetragen wird. Bei anderen Interpreten sind die Temposchwankungen geringer. [17]
- Gegen Ende des Liedes wird wegen des trauriger werdenden Textes das Tempo in Strophe und Refrain meist zurückgefahren. Beim Ausmaß dieser Temporeduktion gibt es wiederum erhebliche Unterschiede in den einzelnen Interpretationen.
5 Links und Quellen
5.1 Siehe auch
5.2 Weblinks
- Tsen Brider / צען ברידער - Martin Rosenberg alias Rosebery d'Arguto
- Tsen Brider - Zen Bridder - Zehn Brüder
- Text des Liedes auf Deutsch
5.2.1 Bilder / Fotos
5.2.2 Videos auf Youtube
- Version des Liedes der Gruppe Zupfgeigenhansel
- Weitere Version des Liedes
- Version der Gruppe Di Gojim
- Version des Iowa City High Chamber Choir
- Version von Wolf Krakowski
- Version von Lauscher
- Version des Moni Ovadia Theater Orchestra
5.3 Quellen
5.4 Literatur
- Joshua R. Jacobson: "Tsen Brider" - A Jewish Requiem, Musical Quarterly 84, Nr. 3, 2000, Seite 455 bis 474
- Ares Rolf und Ulrich Tadday (Hrsg.): „Tsen brider sajnen mir gewesn" - Der besondere Humor jiddischer Musik und dessen Erscheinungsformen in Deutschland; in Martin Geck - Festschrift zum 65. Geburtstag, Klangfarben Musikverlag, Dortmund, 2001
5.5 Einzelnachweise
- ↑ Wulf Schmidt-Wulffen: Die "Zehn kleinen Negerlein" - Zur Geschichte der Rassendiskriminierung im Kinderbuch, LIT Verlag, Berlin, 2010, S. 63 und 195
- ↑ Kálra Móricz: Jewish Identities - Nationalism, Racism, and Utopianism in Twentieth-Century, University of California Press, 2008, S. 19
- ↑ Helge-Ulrike Hyams (Hrsg.): Jüdisches Kinderleben im Spiegel jüdischer Kinderbücher, BIS-Verlag, Oldenburg, 2001, S. 282 und 283
- ↑ Ares Rolf und Ulrich Tadday (Hrsg.): „Tsen brider sajnen mir gewesn" - Der besondere Humor jiddischer Musik und dessen Erscheinungsformen in Deutschland; in Martin Geck - Festschrift zum 65. Geburtstag, Klangfarben Musikverlag, Dortmund, 2001, S. 371 ff.
- ↑ Harry Coopersmith: The New Jewish Songbook, Behrman House Inc., 1965, S. 118 und 119
- ↑ Joshua R. Jacobson: "Tsen Brider" - A Jewish Requiem, Musical Quarterly 84, Nr. 3, 2000, Seite 454 bis 457 und 463 ff.
- ↑ Various – Konzert Für Pitter - Göppingen 1976 Live
- ↑ Zupfgeigenhansel – Jiddische Lieder ('ch Hob Gehert Sogn)
- ↑ Giora Feidman Featuring NDR-Chor – The Soul Chai
- ↑ Die fünf im Bild dargestellten Versionen sind: Einspielung der Gruppe Zupfgeigenhansel aus dem Jahr 1976 - Sussman Kisselgofs Notation aus dem Jahr 1911 - Von Eleanor Gordon Mlotek notierte Version aus dem Jahr 1990 - Von Elsbeth Janda notierte Version in ihrem Buch Lieder aus dem Ghetto aus dem Jahr 1962 - Von M. D. Goldin notierte Version aus dem Jahr 1994.
- ↑ Jewish National and Zion Songs (K`vutsat Shirim), Hebrew Publishing Company, New York, 1924, S. 255 bis 257
- ↑ Harry Coopersmith: The New Jewish Songbook, Behrman House Inc., 1965, S. 118 und 119
- ↑ Die fünf im Bild dargestellten Versionen sind: Einspielung der Gruppe Zupfgeigenhansel aus dem Jahr 1976 - Sussman Kisselgofs Notation aus dem Jahr 1911 - Von Eleanor Gordon Mlotek notierte Version aus dem Jahr 1990 - Von Elsbeth Janda notierte Version in ihrem Buch Lieder aus dem Ghetto aus dem Jahr 1962 - Von M. D. Goldin notierte Version aus dem Jahr 1994.
- ↑ Anm.: Wenn ein Jude gestorben ist, halten die Familienmitglieder die Toten wache. Dazu wird am Kopfende des Toten eine Kerze angezündet
- ↑ Joshua R. Jacobson: "Tsen Brider" - A Jewish Requiem, Musical Quarterly 84, Nr. 3, 2000, S. 456
- ↑ Ares Rolf und Ulrich Tadday (Hrsg.): „Tsen brider sajnen mir gewesn" - Der besondere Humor jiddischer Musik und dessen Erscheinungsformen in Deutschland; in Martin Geck - Festschrift zum 65. Geburtstag, Klangfarben Musikverlag, Dortmund, 2001, S. 372
- ↑ Joshua R. Jacobson: "Tsen Brider" - A Jewish Requiem, Musical Quarterly 84, Nr. 3, 2000, Seite 455 bis 474
6 Andere Lexika
Wikipedia kennt dieses Lemma (Tsen Brider) vermutlich nicht.
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