Hans Castorps Schneetraum

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Hans Castorps Schneetraum zählt zu den Höhepunkten in Thomas Manns Roman Der Zauberberg (1924), bleibt aber ein Zwischenspiel. Der Einschub widerruft die sonst durchgehende Dekadenz-Thematik des Romans. Zugleich verabschiedet Thomas Mann ein von ihm bis dahin wiederholt bearbeitetes literarisches Motiv: Die „Sympathie mit dem Tode“.

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1 Der Schneesturm

Hans Castorp, ein junger Mann aus Hamburg und Patient in dem Davoser Lungensanatorium, unternimmt eines Tages einen Skiausflug ins Hochgebirge. Dort gerät er in einen lebensbedrohlichen Schneesturm, verliert die Orientierung und muss das Unwetter im Windschatten eines Heuschobers abwarten. Er schläft ein, nachdem er einige Schlucke Portwein zu sich genommen hat, „die sofort ihre Wirkung zeitigten“, und träumt. Der Traum zerfällt in zwei Teile: in szenische Bilder und einen anschließenden inneren Monolog, der die Traumbilder reflektiert. Thomas Mann trennt zwischen „Bildertraum“ und „Gedankentraum“.

2 Der Traum

2.1 Gliederung

Der Traum besteht aus vier mythischen Bildern.

Das erste Bild könnte die Überschrift „Heimat“ tragen: Hans Castorp sieht Laubbäume in vollem Blätterschmuck sacht mit den Wipfeln rauschen. Er atmet ihren Duft und denkt: „Oh Heimatodem, Duft und Fülle des Tieflandes, lang entbehrt.“ Ein Regenschauer geht nieder und es entsteht ein Regenbogen, der einen Szenenwechsel einleitet.

„Paradiesische Gefilde“, so ließe sich das zweite Bild überschreiben: Die Landschaft öffnet sich „in wachsender Verklärung“. Ein Meeresgestade tut sich auf, eine wunderschöne Bucht. „Eine Seligkeit von Licht, von tiefer Himmelsreinheit“. Bevölkert wird die Szenerie von Jugend beiderlei Geschlechts: „Sonnen- und Meereskinder“. Es sind wohlgestaltete Jünglinge, die sich mit ihren Pferden beschäftigen und sich im Bogenschießen üben. Und schöne Mädchen, musizierend, im Reigentanz. Tief beeindruckt ist Hans Castorp durch die Freundlichkeit und höfliche Rücksicht, in der die Sonnenleute miteinander umgehen, ernst und heiter zugleich, in „verständiger Frömmigkeit“'.

Dann fällt sein Blick auf eine stillende junge Mutter. Die Vorübergehenden grüßen sie „durch das nicht allzu genaue Andeuten einer Kniebeugung, ähnlich dem Kirchenbesucher, der im Vorübergehen vorm Hochaltar sich leichthin erniedrigt“. Die Figur der Mutter und die konventionellen Ehrerbietungen erinnern an eine Mariendarstellung. Abseits (im Text heißt es: „gelassen abseits“) steht ein schöner Knabe, dessen volles Haar wie ein Helm seinem Kopfe aufliegt, und der die Arme vor der Brust verschränkt. Er schaut zwischen Hans Castorp und dem Strandbild hin und her. Schließlich blickt der Knabe an Hans Castorp vorbei ins Weite. Seine Miene ändert sich, wird immer ernster, versteinert und nimmt eine unergründliche „Todesverschlossenheit“ an. Es ist Hermes, den Thomas Mann wie schon zuvor in Der Tod in Venedig wieder auftreten lässt. Zu den Aufgaben dieser verbindenden Gottheit gehörte auch, die Seelen in die Totenwelt zu geleiten. Angesichts dieser „Todesverschlossenheit“ kommt Hans Castorp „der blasse Schrecken [...], nicht ohne eine unbestimmte Ahnung ihres Sinnes“.

Er wendet sich rückwärts. Das dritte Bild tut sich auf. Hans Castorp steht vor den Säulen eines antiken Tempels. Er betritt ihn und gewahrt eine steinerne Gruppenplastik: „Mutter und Tochter, wie es schien“. „In Betrachtung des Standbildes wurde Hans Castorps Herz aus dunklen Gründen noch schwerer, angst- und ahnungsvoller“. Die Thomas-Mann-Interpretation sieht in den zwei Frauen Persephone und Demeter. Damit erweist sich das dritte Bild als Hades. Die „Paradiesischen Gefilde“ lösen beim Leser eine religiöse Anmutung aus. Der Tempelbezirk führt in vorreligiöse, mythische Sphäre.

Durch eine offene Tür blickt Hans Castorp in das Innere der Tempelkammer. Dies ist das vierte Bild. Castorp wird konfrontiert mit der personifizierten Natur: Zwei graue, zottelhaarige Weiber, halbnackt, mit „hängenden Hexenbrüsten und fingerlangen Zitzen“ zerfleischen und fressen über flackerndem Feuer ein kleines Kind. Das sollen Thomas Manns Allegorien der wilden Natur sein. Mit Entsetzen wacht Hans Castorp auf, schläft aber gleich wieder ein. Ohne die anfängliche Schlaftiefe zu erreichen, träumt er weiter, jetzt „nicht mehr in Bildern, sondern gedankenweise“, in aufgelockerten Assoziationen.

2.2 Leben und Tod

Mit dem Bildertraum greift Thomas Mann den Nekyia-Mythos auf. Er beschreibt den vorübergehenden Aufenthalt eines Sterblichen in der Totenwelt. Gegen Ende seiner Irrfahrt gelangt Odysseus in den Hades. Der elfte Gesang der Odyssee, der dies schildert, ist mit „Nekyia“ überschrieben. Die Überschrift wurde namensgebend für dieses mythische Motiv. Als Synonym für Nekyia gilt die Bezeichnung Höllenfahrt.

Die Bilderfolge „Heimat“, „paradiesische Gefilde“, „Hades“ und „Natur“ illustriert eine mythische Rückschau, einen Abstieg zum Uranfänglichen. Thomas Mann folgt dabei Arthur Schopenhauers Philosophie vom Primat des Willens, nach dem Wille und Natur die Grundlagen von Vorstellung und Geistigkeit sind.[1]

Gleich zu Beginn nennt Thomas Mann seinen Protagonisten Hans Castorp einen einfachen jungen Menschen. Auf der letzten Seite ruft er ihm nach: „[…] denn du warst simpel“. Doch nach seiner Rückkehr vom Hades gelingen Hans Castorp im Halbschlaf tiefgreifende Schlussfolgerungen. Leben und Tod werden als zusammengehörig erkannt. „Wer aber den Körper, das Leben erkennt, erkennt den Tod.“ Und umgekehrt: „Denn alles Interesse für Tod und Krankheit ist Ausdruck des Interesses am Leben“.

„Mir träumte“ - so fasst es Hans Castorp zusammen - „vom Stande des Menschen in seiner höflich-verständigen und ehrerbietigen Gemeinschaft, hinter der im Tempel das grässliche Blutmahl sich abspielte. Waren sie so höflich und reizend zueinander, die Sonnenleute, im stillen Hinblick auf eben dies Grässliche? Das wäre eine feine und recht galante Schlussfolgerung, die sie da zögen.“ Was hier geäußert wird, ist Thomas Manns Ansicht über die Wurzel menschlicher Gesittung. „Form und Gesittung verständig-freundlicher Gemeinschaft und schönen Menschenstaats – im stillen Hinblick auf das Blutmahl“.

Am Ende des Gedankentraums gibt sich Hans Castorp den „Lebensbefehl“ (E. Heftrich), dem Tod keine Herrschaft mehr über seine Gedanken einzuräumen. „Und damit wach' ich auf, denn damit hab’ ich zu Ende geträumt“. Der Schneesturm hat aufgehört. Hans Castorp fährt zurück ins Tal, in sein Sanatorium. Und bereits während der Abendmahlzeit beginnen seine Traumgedanken zu verblassen. „Was er gedacht, verstand er schon diesen Abend nicht mehr so ganz“. Hans Castorp musste seine Traumerkenntnisse vergessen.

3 Interpretation

Thomas Manns Antinomie von Natur und Geist wird an dieser Stelle im Roman zurückgenommen. Hans Castorp fragt sich: „Geist und Natur, sind das wohl Widersprüche? Ich frage: Sind das Fragen? Nein, es sind keine Fragen.“ Verworfen wird auch die poetische Verbindung von Liebe und Tod: „Tod und Liebe, das ist ein schlechter Reim, ein abgeschmackter, ein falscher Reim!“ Im Kapitel Fülle des Wohllauts, gegen Ende des Romans, stellt Thomas Mann die Vorzugsschallplatten von Hans Castorp vor. Doch von dem Schlussduett in Aida – in dem Aida und Radames in Liebe und Tod vereint sind – ist Hans Castorp zutiefst gerührt und weit entfernt, einen „schlechten Reim“ zu erkennen.

Die persönlichen Aussprüche im Gedankentraum sind zwar verschlüsselt, bleiben aber Mitteilungen. Zum Beispiel Thomas Manns Standortbestimmung als Künstler. „Der Mensch ist der Herr der Gegensätze“, meint Hans Castorp. Doch nur als Künstler ist er Herr der Gegensätze. Zu Thomas Manns Kunstauffassung gehörte, dass die Kunst aus der Bipolarität der Wirklichkeit, dem „Entweder/Oder“, ein „Sowohl als Auch“ macht. Dass die Kunst widersprüchliche Aussagen gelten lässt und sie durch ästhetische Gestaltung glaubwürdig versöhnt. „Künstlerische Paradoxie“ hat er die Simultanität von gegensätzlichen Affekten oder inhaltlichen Aussagen genannt.

Es gibt - wie auch in anderen Werken der Literatur - eine geheime Identität von Autor und Hauptperson. Nicht Hans Castorp hatte den Gedankentraum, sondern sein Autor. Über einige Romanseiten hatte sich Thomas Mann Person und Spracheigentümlichkeit des jungen Mannes ausgeborgt. Allerdings war äußerer Anlass für das Werk ein Kuraufenthalt von Thomas Manns Frau Katia im Waldsanatorium von Davos im Jahre 1912.

Im Dichter sieht Thomas Mann den Homo Dei. Sein Stand ist „zwischen Durchgängerei und Vernunft – wie auch sein Staat ist zwischen mystischer Gemeinschaft und windigem Einzeltum“. In der Hochschätzung des Dichters als Homo Dei folgt Thomas Mann Johann Wolfgang von Goethe. [Im „Prolog im Himmel“ (Faust I) legitimiert „Der Herr“ die Dichter als die „echten Göttersöhne“. Sie sollen, „was in schwankender Erscheinung schwebt“, befestigen „mit dauernden Gedanken“.]

Der Mensch ist „vornehmer als der Tod, zu vornehm für diesen – das ist die Freiheit seines Kopfes. Vornehmer als das Leben, das ist die Frömmigkeit in seinem Herzen.“ Das gibt nur Sinn, wenn man wieder für Mensch „der Künstler“ setzt und für Tod „Freitod“. Der Künstler ist „vornehmer als der Tod, zu vornehm für diesen – das ist die Freiheit seines Kopfes“, denn er weiß offenbar, dass ihn sein Werk unsterblich macht. Thomas Mann verbannt die Alternative Tod um des Werkes willen, des noch nicht vollendeten Lebenswerkes. Der Mensch ist „vornehmer als das Leben“ und sagt: Ich, Künstler und Sohn eines Lübecker Senators, meinem ganzen Wesen nach auf Repräsentation bedacht, halte Keuschheit (Frömmigkeit in meinem Herzen) für vornehmer, als das Ausleben meiner homoerotischen Neigungen.

4 Der geschichtliche Hintergrund

4.1 Die Jahrhundertwende

Die künstlerischen Strömungen der letzten zwei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 beschäftigten sich teilweise mit dem Thema Dekadenz.[2][3] Dieses Thema spielt auch hier eine Rolle - so der Autor: „Ich schreibe ja immer Verfallsgeschichten.“[4] In Doktor Faustus gelingt einem Künstler der geniale Durchbruch erst in der Fiebrigkeit nach einer durch Syphilis ausgelösten Enzephalitis. „Genialisierung durch Krankheit“ gilt als ein Motiv der Dekadenz. In Der Zauberberg werden Krankheit und Todesnähe als der „geniale Weg“ zum Leben beschrieben.

Thomas Mann wollte nach Der Tod in Venedig (1913) etwas Heiteres schreiben, eine Parodie auf Todesstimmung und Todesfaszination. Die Formulierung „Sympathie mit dem Tode“ findet sich erstmals in einem Brief an den Bruder Heinrich Mann von 1913:[5] „Eine wachsende Sympathie mit dem Tode, mir tief eingeboren.“ Einige Sätze zuvor heißt es: „Wenn nur die Arbeitskraft und -lust entsprechend wäre. Aber das Innere: Die immer drohende Erschöpfung, Skrupel, Müdigkeit, Zweifel, eine Wundheit und Schwäche, dass mich jeder Angriff bis auf den Grund erschüttert“. Im Rückblick auf den vergangenen Winter berichtet er von „Depressionen wirklich arger Art mit vollkommen ernst gemeinten Selbstabschaffungsplänen“.

Leitmotiv von Der Zauberberg ist die „Sympathie mit dem Tode“. Von ihm verabschiedet sich Thomas Mann in dem Kapitel Schnee mit einem Vorsatz, der als einziger Satz des Romans kursiv gedruckt ist: „Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken“. Es sind die Traumgedanken der zentralen Figur, des jungen Hans Castorp, die er aber wieder vergisst. Damit wird das Kapitel Schnee zu einer Binnenerzählung. Die Traumgesichte und -gedanken werden nicht mit dem weiteren Handlungsverlauf verknüpft.

4.2 Erster Weltkrieg

„Dieser wunderliche Bildungsroman“ schreibt Thomas Mann dem Germanisten Philipp Witkop, „führt doch eigentlich auch wieder aus dem 'Verfall' nicht heraus“.[6] Doch Verfall, Dekadenz und romantische „Sympathie mit dem Tode“ waren nach dem Epochenwechsel, der sich mit dem Ersten Weltkrieg vollzogen hatte, nicht mehr zeitgemäß, und Thomas Mann wollte nicht zurückstehen. Den bereits 1913 begonnenen Roman aufgeben wollte er aber auch nicht. Das dürfte einer der Gründe für den Widerruf sein, der im Gedankentraum des Kapitels Schnee ausformuliert wird, bemüht und ausführlich.

Verschlüsselt enthält das 1923 entstandene Kapitel einen sehr ernsten Beschluss des 48-jährigen Thomas Mann: Die Bewältigung seiner bis dahin wiederkehrenden Suizidgedanken mit dem Lebensbefehl, dem Tode keine Herrschaft über die Gedanken einzuräumen.

Der Zauberberg ist mit längeren Unterbrechungen durch essayistische Arbeiten enstanden. Ursprünglich war eine Novelle geplant. Nach 1918 erweiterte er die Konzeption auf das Thema Todesromantik plus Lebensja: „Es handelt sich letzten Endes um Kritik und Überwindung der als Todesfaszination verstandenen Romantik zugunsten des Lebensgedankens und eines neuen Humanitätsgefühls“.[7] Trotzdem bleibt depraviert-romantische Todesverfallenheit – in einer Mischung aus Komik und Todesgrauen – die Grundtendenz des Romans.

Der Germanist Michael Neumann meint, der Roman habe wie der Kopf des Janus zwei Gesichter, „die in entgegengesetzte Richtungen blicken“.[8] Das Kapitel „Schnee“ ist für sich genommen große Literatur, bleibt jedoch ein Einschub. Seinen Zweck erfüllt das Zwischenspiel: Thomas Mann kann im Roman Todesverfallenheit beschreiben, hat er doch mit diesem Widerruf Romantik und Dekadenz als gestrig abgetan. Dieser Widerruf der Todesverfallenheit und die Bejahung des Lebens hatte für Thomas Mann sogar bedeutende politische Implikationen: Von Hause aus konservativ und ein Anhänger des wilhelminischen Obrigkeitsstaates, wandelte sich Thomas Mann nach dem Ersten Weltkrieg zum Anhänger und Verteidiger der Weimarer Republik und später zum Gegner des Nationalsozialismus.

5 Einzelnachweise

  1. Thomas Mann am 2. August 1947 an Karl Kerényi
  2. Meštrović, Stjepan G.: The Coming Fin de Siecle: An Application of Durkheim's Sociology to modernity and postmodernism. Oxon, England, UK; New York, New York, USA: Routledge (1992 [1991]: 2).
  3. Pireddu, Nicoletta. "Primitive marks of modernity: cultural reconfigurations in the Franco-Italian fin de siècle," Romanic Review, 97 (3–4), 2006: 371–400.
  4. Thomas Mann am 26. Dezember 1947 an Max Brantl
  5. Thomas Mann am 8. November 1913 an Heinrich Mann
  6. Thomas Mann am 14. Dezember 1921 an Philipp Witkop
  7. Thomas Mann am 30. August 1925 an Helmut Ulrici
  8. Michael Neumann: Die Irritationen des Janus oder „Der Zauberberg“ im Feld der Moderne. In: Thomas-Mann-Jahrbuch. Klostermann, Frankfurt am Main 2001, S. 83

6 Literatur

7 Weblinks

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