Menschlichkeit statt Geldwirtschaft

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Finanzkrisen fordern nicht nur die Wirtschaftspolitik heraus, sondern auch die Sozialethik: Ist es praktisch alternativlos, dass Geld die Welt regiert? / Angenommen, ein Geschenk löste eine Kettenreaktion aus, und alles wäre auf einmal kostenlos: eine menschlichere Welt könnte das sein.

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1 Das Thema

In der kostenlosen Gesellschaft gibt es nur ehrenamtliche Arbeit. Die Produkte der Arbeit stehen jedem Mitglied der Gesellschaft kostenlos zur Verfügung, teils befristet, teils unbefristet. Weltweit den Bedarf und die Bedarfsdeckung fein aufeinander abzustimmen, sollte im Zeitalter von Computer und Internet kein großes Problem mehr sein.

Organisatorischer Ausgangspunkt der kostenlosen Gesellschaft ist eine Erhebung: Jedes Mitglied wählt Arbeiten aus, die es tun möchte, und Produkte, die es haben möchte. Das Organisationsprogramm ermittelt, in welchem Verhältnis die nachgefragten Arbeiten zu den nachgefragten Produkten stehen. Bei Missverhältnissen erfolgen weitere Mitgliederbefragungen, bis die Antworten dazu führen, dass die Gesamtheit der Arbeiten und die Gesamtheit der Produkte zusammenpassen. Sobald dieses Ergebnis erzielt ist, teilt das Programm jedem die Arbeit zu, für die er sich zuletzt entschieden hat, und jeder nimmt von den Produkten, was er gewünscht hat. Das Programm vermerkt, wie weit die Arbeiten tatsächlich erledigt und die Produkte tatsächlich in Anspruch genommen werden. Bei Abweichungen wird das Missverhältnis wieder durch Neujustierung behoben.

Jedes Mitglied der kostenlosen Gesellschaft führt eine Chipkarte mit sich, auf der sein Arbeits- und Konsumverhalten erfasst und mit den persönlichen „Will“-Werten (statt „Soll“-Werten) verglichen wird. Bei Abweichungen wird nicht das Gesellschafts-Mitglied, sondern das Gesellschafts-System angestoßen, der neuen Situation Rechnung zu tragen: Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser! Freilich kann es zu so starken Abweichungen kommen, dass die kostenlose Gesellschaft nicht mehr funktioniert. Dann muss auf andere Gesellschaftssysteme zurückgegriffen werden. Zurückgegriffen, weil diese anderen Systeme hinter dem kostenlosen zurückbleiben. Die kostenlose Gesellschaft ist die fortgeschrittenste, weil ihr Funktionieren die höchste soziale Reife der Gesellschaftsmitglieder erfordert. Für nichts muss bezahlt, sondern alles kann geschenkt werden, sobald wir menschliche Menschen sind.

Entscheidend für die Menschlichkeit des Menschen ist weder Zucht noch Zügellosigkeit, sondern die spielerische Abmilderung dieser extremen Lebensweisen. In der kostenlosen Gesellschaft sind Zucht und Zügellosigkeit dadurch abgemildert, dass ein Programm den Gesellschaftsmitgliedern vorrechnet, wie schief es laufen muss, wenn jeder auf Maximalwünschen an die Gesellschaft und auf Minimalbeiträgen für die Gesellschaft beharrt. Das Programm nimmt alle Wünsche und alle Beiträge entgegen, ohne sie auf- oder abzuwerten. Es spielt sie lediglich durch, um mitzuteilen, was unterm Strich herauskommt. Derart unparteiisch lassen sich die Züchtigen am zumutbarsten zur Toleranz bewegen und die Zügellosen am zumutbarsten zur Fairness. Dass es gelingen muss, ist damit nicht gesagt. Aber der Gedanke ist in der Welt.

2 Variation des Themas

Der Anbieter eines Internetzugangs verlangt für seine Dienstleistung eine Gegenleistung. Er könnte zwar im Rahmen einer Werbeaktion vorübergehend den Zugang kostenlos stellen, aber normalerweise will er Geschäfte machen und auch die Werbekosten wieder hereinholen. Warum? Weil er selber zumindest kostendeckend wirtschaften will. Zu den Kosten, die in einem Dienstleistungsbetrieb anfallen, gehören Gehälter für die Angestellten. Handelt es sich um einen Familienbetrieb, dann wollen die Betreiber selber von ihrem Geschäft leben können, also auf ihre Lebenshaltungskosten kommen. Aber was wäre, wenn es überall, wo solche Kosten entstehen, auf einmal hieße, dass keine Kosten mehr anfallen? Wenn niemand mehr Geld wollte, weil alles kostenlos wäre?

Wenn alles auf einmal kostenlos wäre, hielte es viele nicht mehr an ihrem bisherigen Arbeitsplatz. Denn viele haben einen Arbeitsplatz hauptsächlich oder ausschließlich deshalb, um Geld zu verdienen. Wenn aber niemand mehr Geld von ihnen verlangt, haben sie Besseres zu tun, als weiter einer ungeliebten Berufstätigkeit nachzugehen. Finden sie dann keine andere Arbeit, die ihnen mehr Freude macht, haben die meisten auch nichts gegen eine Arbeitslosigkeit einzuwenden; denn finanziell bedeutet das keinen Unterschied: es gibt sowieso kein Geld. Dem Arbeitslosen droht allenfalls die Langeweile. Indessen, warum sollte sie? Er muss ja nicht auf Stellensuche gehen, um irgendwo angestellt zu werden. Er kann sich ohne Risiko selbstständig machen. Das muss auch kein auf Kunden angewiesenes Unternehmen sein. Denn verdient wird in der kostenlosen Gesellschaft sowieso nichts mehr.

Sobald er sich an diesen Gedanken gewöhnt hat, könnte ihm eine Weltreise in den Sinn kommen. Nirgendwo wird man Geld oder eine andere Gegenleistung von ihm verlangen. Er kann alles kostenlos nutzen, was zu einer solchen Reise gehört. Er ist rundum versorgt. Immer vorausgesetzt, dass es noch genügend viele Arbeitskräfte gibt, die ihn unterwegs versorgen. Genügend viele, die bereit sind, auch kostenlos solche Arbeiten zu verrichten. Das kann man nicht ohne weiteres voraussetzen. Unser reisefreudiger Arbeitsloser wird daher zuerst einmal nachsehen, wie viel Service er erwarten darf. Im Internet findet er dazu alles Nötige, vorausgesetzt, es gibt Arbeitskräfte, die diesen Informationsdienst leisten. Wenn nicht, muss er sehen, wo er bleibt. Die Welt mag ihm immer noch offen stehen, aber er muss womöglich in viel höherem Maße Selbstversorger sein als gedacht. Oder umdisponieren. Indem er in den laufenden Reise- und auch sonstigen Angeboten stöbert, um ein für ihn wenigstens halbwegs interessantes wahrzunehmen.

Kurz, wenn alles kostenlos wird, herrscht womöglich ein immenser Arbeitskräftemangel. Es sei denn, man spricht sich optimal ab. Was wird gewünscht? Wer will wie viel zur Wunscherfüllung beitragen? Auf dem Wege solcher Absprachen dürfte alles möglich sein. Vorausgesetzt, die Beteiligten zeigen eine gewisse Kompromissbereitschaft. Die folgende Formulierung der Goldenen Regel könnte dafür ein besonders fruchtbarer Ansatz sein: „Wer die Hilfe anderer zum eigenen Fortkommen braucht, ist verpflichtet, auch seinerseits Opfer zu bringen, damit die Bedürfnisse der anderen befriedigt werden können. Deshalb sind jene am besten zum Gemeinschaftsleben geschaffen, die allen anderen zu gestatten bereit sind, was sie sich selber erlauben“ (Pufendorf).

Die kostenlose Gesellschaft wird keine „opferlose“ sein, wenn sie funktionieren soll. Das nicht. Aber die kostenpflichtige Gesellschaft hat den zusätzlichen Nachteil, dass die Opfer durch die Bank viel ungerechter verteilt sind und die Verschärfung dieser Ungerechtigkeit nicht mit Geld zu bändigen ist. Leitet sich diese Verschärfung doch gerade von der Eigendynamik des Geldes her, die Karl Marx (1818-1883) als Kapitalismus bezeichnete und ausführlich darstellte. Womit er zugleich andeutete, dass eine nachkapitalistische Gesellschaft nicht mehr von einer Geldwirtschaft bestimmt sein kann.

3 Siehe auch

Versuche über Karl Marx

4 Literatur

  • Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft (Eine heutige Utopie kann morgen Realität sein)
  • Karl Marx: Das Kapital
  • Hanna Poddig: Radikal mutig. Meine Anleitung zum Anderssein (Aktuelles Beispiel eines Lebens ohne Geld)
  • Samuel Pufendorf: Die Gemeinschaftspflichten des Naturrechts
  • Heinrich Rombach: Strukturanthropologie – „Der menschliche Mensch“
  • Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung (Der spielende als der menschliche Mensch)
  • Georg Simmel: Philosophie des Geldes

5 Weblinks

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