Versuche über Karl Marx
Essayistische Zugabe zur Enzyklopädie |
Karl Marx (1818-1883) war ein Theoretiker der Arbeit und der Gesellschaft, dessen Diagnosen und Prognosen immer noch bemerkenswert sind. / Marx wollte keine ideale Gesellschaft konstruieren, sondern die reale Gesellschaft studieren. Er fand dabei nichts Wirklicheres als Lohnarbeit und Kapital. / Der Kapitalismus ist ungerecht, bietet aber auch Arbeitern viele Möglichkeiten, sogar zum Kampf gegen Ungerechtigkeit.
Inhaltsverzeichnis
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1 Erster Versuch
Arbeit ist Kraft mal Weg. Eine Arbeitskraft, die nicht bewegt wird, ist arbeitslos. Sie ist eine Kraft, von der kein Gebrauch gemacht wird. Arbeitslose sind Arbeitskräfte ohne Arbeit: potenzielle Energie. Die Potenz ist da, aber sie wird nicht gebraucht, nicht genutzt, nicht verwirklicht. Wer potent ist, ist mächtig; nur Impotenz ist Ohnmacht. Deshalb ist die Arbeitskraft auch im Falle der Arbeitslosigkeit eine Macht. Das zeigen nicht zuletzt Streiks, in denen Arbeiter selbstbestimmt die Arbeit niederlegen. Viele Arbeitskräfte sind eine Großmacht. Die „Proletarier aller Länder“ sind eine Weltmacht. Sie stellen heute sogar die USA, die sogenannte „Weltmacht Nr. 1“, in den Schatten. An die Supermacht der Gesamtheit der Arbeitskräfte hat keine andere Weltmacht je herangereicht und wird das auch nie tun.
Trotzdem ist die Gesamtheit der menschlichen Arbeitskräfte als solche nahezu machtlos. Marx drückte das mit den Worten aus, sie sei eine „Klasse an sich“, aber nicht eine „Klasse für sich“. Fast alle Arbeitskräfte gehören seit eh und je zu Kräfte-Zusammenschlüssen, die nicht ihr eigener sind. Selbstorganisatorisch ist die „Arbeiterklasse“ unterentwickelt. Obwohl sie die besten Organisatoren stellt, wer sonst! Aber diese sind anderweitig beschäftigt, wie fast alle Arbeitskräfte, sofern nicht arbeitslos. Sie gehen der „Klasse für sich“ ab, indem sie entweder selber ein Privatunternehmen betreiben oder für ein anderes Privatunternehmen tätig sind. Die Privatunternehmen bedienen sich der „Arbeiterklasse“, statt ihr zu dienen. Sie wirtschaften eigennützig statt gemeinnützig, selbst dann, wenn ihnen eine gewisse „Gemeinnützigkeit“ vom Gemeinwesen bescheinigt wird.
Das hier angeführte Gemeinwesen ist nicht die organisierte Gesamtheit der Arbeitskräfte, sondern eine Einrichtung, die den Krieg aller Privatunternehmen gegen alle im Interesse aller Beteiligten abkühlt, um seine Nachhaltigkeit zu gewährleisten. Dazu braucht diese Staat genannte Einrichtung ebenfalls Arbeitskräfte. Und weil es bisher trotz weltweiter Engagements vieler Privatunternehmen noch zu keinem Weltstaat gekommen ist, brauchen die bestehenden Staaten für die Regelung bi- und multilateraler Kontakte und Konflikte zusätzliche Arbeitskräfte, vom Diplomaten bis zum Soldaten.
Um für all diesen von Privatinteressen geleiteten Aufwand genügend viele Arbeitskräfte zu finden und zu halten, braucht es wiederum „private“ Anreize, die sich von der zeitweiligen Zusicherung eines Mindestlohns bis zu glänzenden Karriereaussichten erstrecken. So kann jede Arbeitskraft etwas „für sich“ tun, ohne ihre Entfremdung aufzuhalten. Zu dieser Entfremdung gehört, dass die natürliche Tendenz zur Solidargemeinschaft der Arbeitskräfte – also zur „klassenlosen Gesellschaft“ – unterdrückt wird. Und zwar am gründlichsten in den kapitalistischen Verhältnissen mit ihrer zwar krisengeschüttelten und das Elend verschärfenden, aber unwiderstehlichen Dynamik.
Marx hielt unter diesen Umständen alles für möglich. Den Untergang der Menschheit ebenso wie den Umschlagspunkt, wenn sich sozusagen der Kalte Krieg der Global Player hinreichend zuspitzt. Die bis dahin vorangetriebene produktive Intelligenz könnte dazu führen, dass die Zeit einmal reif sein wird für die Besinnung auf die Fülle der Macht zum Wohle aller. Wenn alle Arbeitskräfte endlich am selben Strang ziehen, statt sich mit falschem Selbstbewusstsein gegeneinander ausspielen zu lassen. Aber das, wie gesagt, nur im besten Fall.
2 Zweiter Versuch
Karl Marx wurde 1818 in Trier geboren. Gestorben ist er 64-jährig im Londoner Exil. Kurz zuvor hatte er den Tod seiner Frau Jenny zu betrauern. Die Familie war finanziell kräftig von dem Unternehmersohn Friedrich Engels unterstützt worden, der seinem Freund auch geistig so nahe stand, dass beider Werke in einer Marx-Engels-Gesamtausgabe vereinigt sind.
Marx war ein Gesellschaftstheoretiker, der es bei der Theorie nicht belassen, sondern seine radikalen Ideen politisch umsetzen wollte. Der Schlüsselbegriff seiner in Paris entworfenen Sozialphilosophie, die den Idealisten Hegel (1770-1831) "vom Kopf auf die Füße" stellte, war der Begriff der Arbeit. Danach ist der arbeitende Mensch der sich selbst verwirklichende. Die Selbstverwirklichung des Menschen ist somit die Vergegenständlichung, die Entäußerung seines Wesens in den Produkten der Arbeit. Die menschliche Arbeit ist nach Marx dadurch ausgezeichnet, dass sie nicht nur sinnlich, sondern vor allem geistig (statt instinktiv) vollzogen wird. Das gilt wohlgemerkt nicht nur für die sogenannte geistige Arbeit der "Kulturschaffenden", sondern für alle "Werktätigen": Handarbeit und Kopfarbeit sind im Sinne des Marxschen Arbeitsbegriffs nicht nur gleichrangig, sondern ein und dasselbe: Der ganze Mensch ist auf jegliche Weise der hier gemeinten Arbeit aktiv.
Derart ideale Arbeitsverhältnisse fanden die gleichgesinnten Freunde im Großen und Ganzen der Gesellschaft ihrer Zeit jedoch nicht vor. So beschrieb Engels mit der "Lage der arbeitenden Klasse in England" einen wahrlich elenden Zustand: Die Arbeit war dem Menschen wesensfremd geworden. Und zwar in erster Linie nicht dadurch, dass die im Industriezeitalter weit getriebene Arbeitsteilung dem einzelnen Arbeiter meist nur noch eine Teilarbeit übrig ließ, die ihn vom Gesamtprozess der Produktion entfremdete. Nicht die komplexer gewordene Arbeitswelt also war für die beiden durchaus fortschrittsfreundlichen Denker die "Wurzel des Übels", sondern eine dem Produktionsprozess äußerliche Differenz: die Spaltung der Gesellschaft in finanziell abhängige Lohnarbeiter (Proletarier) und finanzkräftige Eigentümer der Produktionsmittel (Kapitalisten), kurz: eine die Grundbedürfnisse der Menschen überfremdende Geldwirtschaft.
Geld vermag unmittelbar kein Grundbedürfnis zu stillen. Es ist kein Gebrauchswert, sondern ein reiner Tauschwert. Darin liegt aber zugleich seine ungeheure Anziehungskraft: Mittels des Geldes können beliebige Bedürfnisse befriedigt werden, denn es ist ein Tauschmittel für schlechterdings alles andere. So kommt es, dass das Geldvermögen jedem anderen menschlichen Vermögen den Schneid abkauft. Im Grunde der Arbeitskraft, denn diese ist der Inbegriff des konkreten menschlichen Vermögens. Davon ist das Geld eben eine bloße Abstraktion, aber mit außerordentlich großer Auswirkung und damit wirklichster Wirklichkeit. Denn das Wirklichste ist, was am stärksten wirkt.
Das Geld ist ähnlich abstrakRechtswissenschaftt und zugleich wirkmächtig wie die politische Idee, die Marx und Engels als Kritiker der kapitalistischen Wirklichkeit propagierten: die Idee des Kommunismus. Der Kommunismus steht bei seinen "wissenschaftlichen" Urhebern weniger für die Vereinigung der "Proletarier aller Länder" (Kommunistisches Manifest) als für die Wiedervereinigung von Mensch und Arbeit, für die Wiederherstellung des menschlichen Arbeits-Wesens, das in der idealisierten Vergangenheit eines Ur-Kommunismus schon einmal wirklich gewesen sein soll. Der Glaube unserer durchaus zweideutigen ("dialektischen") Materialisten an diese "eigentliche" Wirklichkeit schürte dann den Willen zu einer entsprechenden Weltveränderung, zu einer so leidvollen wie letztlich erfolglosen, weil viel zu idealistisch angesetzten Revolution. Sie ist als Kandidatin für eine dem menschlich-allzumenschlichen Menschen gerecht werdende Alternative zum Materialismus des "schnöden Mammons" nachhaltig ausgeschieden - eine so missliche Sache das Leben unter dessen Weltherrschaft auch bleiben mag.
3 Dritter Versuch
In der „Proletenpassion“ gaben Ende der 1970er Jahre die „Schmetterlinge“, eine österreichische Politrock-Gruppe, unter anderem ihr Verständnis von Freiheit zum Besten: „Wer möglichst viele Möglichkeiten hat, dessen Freiheit ist es. Hat der Arbeiter möglichst viele Möglichkeiten, ist es die Freiheit des Arbeiters. Hat der Kapitalist möglichst viele Möglichkeiten, ist es die Freiheit des Kapitalisten.“ In diesem flotten linken Spruch schlägt sich eine gesellschaftspolitische Theorie nieder: die Kapitalismuskritik von Karl Marx (1818-1883). Nach dieser Theorie handelt es sich bei der kapitalistischen Gesellschaft um eine Klassengesellschaft. Marxistisch aufgefasst, ist eine Klassengesellschaft durch den Kampf zwischen einer herrschenden und einer geknechteten sozialen Klasse gekennzeichnet.
Dahinter stand die Idee eines dialektischen Verhältnisses von Herren und Knechten, eine Idee, die Marx von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) aufgriff. Knecht sein heißt, so gesehen, in der Lage zu sein, für einen anderen, einen Herrn, zu arbeiten. In der Notlage also, auf jemanden angewiesen zu sein, dessen Zwecken die geleistete Arbeit dient. In der Lebenslage aber auch, tätig und aus eigener Kraft produktiv zu sein. Letztlich ist also der Herr maßgeblicher von der Arbeitskraft des Knechtes abhängig als der Knecht vom Schutz des Herrn, sodass sich sagen lässt: Die Herren sind eigentlich die Schutzbefohlenen der Knechte und der Knecht ist im Grunde der Herr des Herrn. Und das ist eben ein dialektischer Befund.
Dialektisch gedeutet, wären die „möglichst vielen Möglichkeiten“, welche die Freiheit ausmachen, missverstanden, wenn man sie den Kapitalisten statt den Arbeitern attestierte. Viele Möglichkeiten hat ein Kapitalist durchaus; sie vermehren und vermindern sich mit dem Kapital: den mit Geld aufzuwiegenden Vermögenswerten. Diese stehen ihm allerdings nicht ohne weiteres zur Verfügung. Er kann nur deshalb über das Kapital verfügen, weil diejenigen, deren Arbeit er es verdankt, einen Lohn akzeptieren, der sich in einem gewaltigen Missverhältnis zu dem Reichtum befindet, den sie erzeugen.
Und gewaltig sind auch die Maßnahmen, die ergriffen wurden, um erstens Arbeitskräfte gegen einen geringen Lohn auszubeuten und zweitens ihren Widerstand gegen solche Produktionsverhältnisse zu brechen. Dazu nicht zuletzt wurde und wird das angeeignete und -gehäufte Vermögen genutzt. Um das kapitalistische Herrschaftssystem aufzubauen und zu stabilisieren, musste und muss man bloß die geeigneten Arbeitskräfte beschäftigen und angemessen bezahlen. Diese tragen zwar keine Werte zum elementaren Reichtum der Gesellschaft bei. Viele von ihnen sind sich aber für nichts zu schade, wenn es sich finanziell lohnt. Und sie tun es noch bereitwilliger, wenn sich die Rechtsverhältnisse den Arbeitsverhältnissen anschmiegen.
Im derart „ausdifferenzierten“ kapitalistischen Gesellschaftssystem stehen dem Arbeiter tatsächlich denkbar viele Möglichkeiten offen: vom Tellerwäscher bis zum Lottomillionär, vom Hartz-IV-Empfänger bis zum Superstar, vom Zeitarbeiter bis zum Topmanager, vom Berufssoldaten bis zum Bestsellerautor. Wozu noch gegen Verhältnisse ankämpfen, von denen man auf mannigfaltige Art und Weise profitieren kann! Und für einen gerechteren Lohn kämpfen kann man darin außerdem, ohne die Grundfesten der Ungerechtigkeit erschüttern zu müssen. Scheint doch der Kapitalismus nur so ungerecht, aber eben auch so frei wie das Leben selbst zu sein. Daran etwas zu ändern, ist womöglich nur noch ein kleiner Schritt für die kulturelle Evolution, aber nach all den leidvollen Erfahrungen wohl ein zu großer für jegliche soziale Revolution.
4 Siehe auch
5 Literatur
- Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes
- Ekkehard Fräntzki: Der missverstandene Marx (Neske)
- Lotter/Meiners/Treptow: Marx-Engels-Begriffslexikon (Beck)
- Karl Marx: Das Kapital
- Karl Marx: Lohnarbeit und Kapital
- Karl Marx: Philosophische und ökonomische Schriften (Reclam)
- Marx/Engels: Das kommunistische Manifest
- Schmetterlinge: Proletenpassion
6 Weblinks
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