Party-Patriotismus
Als Party-Patriotismus bezeichnet man u.a. die nationalistischen Auswüchse, die zum Beispiel in Deutschland anlässlich großer Fußballevents stattfinden. Dabei kommt es auch zu fremdenfeindlichen und rassistischen Äußerungen.
Inhaltsverzeichnis
Übrigens: Die PlusPedia ist NICHT die Wikipedia. Wir sind ein gemeinnütziger Verein, PlusPedia ist werbefrei. Wir freuen uns daher über eine kleine Spende! |
1 Hintergrund
Von 1945 bis etwa 2005 waren nationalistische Auswüchse bei Fußballspielen in Deutschland kaum zu beobachten. Im Gegenteil sangen zum Beispiel 1974 Franz Beckenbauer, Gerd Müller und andere Fußballspieler die deutsche Nationalhymne nicht. Beckenbauer führte 1984 eine Sangespflicht ein.[2] Erst seit der Fußball-WM 2006 kommt es zu verstärkt nationalgesinnten Äußerungen bei Fussballereignissen. Autofahrer demonstrieren ihre Anhängerschaft mit Fähnchen und Spiegelüberzügen, Gärten und Häuser sind mit Flaggen geschmückt, Schaufenster werden in den Nationalfarben dekoriert.
2 Meinungsäußerungen
- Politiker begrüßen die Meere von Nationalflaggen als Zeichen eines Patriotismus.
- Einige Sozialwissenschaftler halten das allerdings für eine Fehleinschätzung. Sie stellten fest, dass die Fremdenfeindlichkeit in Deutschland nach der WM 2006 nicht geringer war als zuvor. Der Nationalismus habe zugenommen. Forscher um den Bielefelder Erziehungswissenschaftler Wilhelm Heitmeyer haben nachgewiesen, dass Personen, die nach der Fußball-WM befragt wurden, nationaler eingestellt waren als diejenigen, die vorher befragt wurden. Heitmeyer meinte dazu: "Die Vermutung, dass es sich dabei um eine neue, offene und tolerantere Form der Identifikation mit dem eigenen Land handelt, lässt sich allerdings nicht bestätigen."
- Das der Partypatriotismus leicht in Rassismus und Fremdenfeindlichkeit umschlagen kann, zeigen Fankommentare aus dem Internet. Anlässlich des Spiels Ghana - Deutschland bei der WM 2014 gab es folgenden rassistischen Kommentar bei Twitter: "Hoffentlich sterben ein paar Schwarze mitten auf dem Spielfeld an AIDS." Ein anderer User meinte u.a.: "Der Neger wagt sich kackdreist in den deutschen Strafraum. Das ist der Dank dafür, dass sie ohne Ketten spielen dürfen."
- Immer mehr werden inzwischen Fußballevents der Nationalmannschaft von Neonazis und Rechten instrumentalisiert und dominiert. Auf Twitter berichtete eine Frau u.a.: hermannplatz:2 schlandzen schlagen auf busscheibe in dem ne junge frau mit argentinienfahne steht:»fick dich«/»argentina hahaha!«. Ein anderer User schreibt: Krass, Cops machen Selfies mit #schlandisten, 10m daneben «SiegHeil », keine reaktion der cops. [3]
- Der Marburger Sozialpsychologe Ulrich Wagner warnt: "Mit dem schwarz-rot-goldenen Fahnenmeer geht nicht nur Fußball-Enthusiasmus einher, sondern auch die Aufwertung der Nation."
- Die Grüne Jugend behauptet: "Der Party-Patriotismus rund um den Fußball läßt sich davon nicht trennen. Er lässt sich auch nicht trennen von der alten Zwangsgemeinschaft Nation. Die Trennung zwischen guten PatriotInnen und schmuddeligen NationalistInnen gibt es nicht; der positive Bezug zum eigenen „Vaterland“ bedeutet immer auch die Abwertung von Anderen, weil sie zum Beispiel AusländerInnen sind oder homosexuell." [4]
- Ulrich Wagner meint u.a.: "Ich bin äußerst skeptisch bei all diesen Formen der nationalen Identifikation. Die vermeintlich harmlosen Deutschland-Symbole könnten eine nationale Gesinnung verstärken."
- Die Zeitung Der Freitag schrieb: "Er kommt harmlos daher, in Wirklichkeit beeinflusst er Millionen von Menschen. Angeblich lässt sich der Patriotismus vom Nationalismus klar abgrenzen. Die Begeisterung für die eigene Nation gehe nicht unbedingt mit der Abwertung anderer Nationen einher. Aber das ist Quatsch. Wenn ein Land als besser empfunden wird, werden alle anderen Länder zwangsläufig im Verhältnis als schlechter empfunden. Natürlich gibt es auch Spieler mit Migrationshintergrund, manche werden sogar extra für den Fußball eingebürgert. Aber am Prinzip wird nicht gerüttelt: Bei den Spielern zählt der Pass, sie werden in eine Zwangsgemeinschaft gesteckt, ihre Nationalmannschaft."[5]
- Jan Rübel meinte auf yahoo.com: "In unserer Abneigung gegen die Fans anderer Länderteams sind wir unerbittlich. (...) Wir müssen Menschen aus anderen Nationen unbedingt mitteilen, wie sehr wir die Niederlagen ihrer Teams genießen. Und das auch noch, wo wir nicht gerade mit dem feinsten Humor gesegnet sind."[6]
- Theresa Kalmer, Sprecherin der Grünen Jugend, sagte: "Ich habe nichts dagegen, wenn Menschen mitfiebern. Aber ich habe etwas gegen den nationalistischen Hype, der jedes Mal damit einhergeht."
- Dem Juso-Vorsitzenden Johann Uekermann wird unwohl, wenn er die unheimliche Präsenz nationaler Symbolik sieht.
- Die Sozialpsychologin Julia Becker legte eine Studie vor, die belegt, dass der bloße Anblick einer Deutschlandflagge bei den Befragten Gefühle wie Dominanz und Fremdenfeindlichkeit steigert, während die amerikanische Flagge im Gegenteil Gefühle von Toleranz und Gemeinsinn verstärke.[7] [8]
- Christian Rögler vom Deutsch-Türkischen Journal[9] sieht es anders:
„Zweifellos gibt es Beispiele, in denen die hoch kochenden Emotionen und Nationalgefühle selbst dazu beigetragen hatten, dass das Klima zwischen einzelnen Ländern vergiftet war: So etwa 1958 nach dem Halbfinale im Ullevi-Stadion in Göteborg, wo Deutschland unter höchst zweifelhaften Begleitumständen gegen Gastgeber Schweden 1:3 verlor und sich daraufhin der nicht zuletzt auch von den Medien angestachelte Volkszorn in aufgestochenen Autoreifen an schwedischen Autos und Boykotten gegenüber schwedischen Touristen Luft machte. (...) Allerdings sind destruktive Begleiterscheinungen der nationalen Aufwallungen rund um bedeutende Fußballspiele kein deutsches Spezifikum. Deutschland ist oft genug auch selbst die Zielscheibe chauvinistischer Stimmungsmache - von den Beschwörungen der Kämpfe gegen die „Hunnen“ und Anspielungen auf den Zweiten Weltkrieg in der englischen Boulevardpresse, dem „Anti-Piefke“-Automatismus in Österreich, wo es als politisch korrekt gilt, bei Spielen der deutschen Elf immer zur jeweils anderen zu halten, der hasserfüllten Berichterstattung in Frankreich, wo antideutsche Journalisten beispielsweise der „Libération“ noch in den 80er-Jahren auf unterstem Niveau publizierten bis hin zu Provokationen aus den Niederlanden, wie im Zusammenhang mit Rijkaards Spuckattacken beim Achtelfinalspiel zur WM 1990. Dass politische Ressentiments sich in den Sport fortpflanzen und dieser als Verstärker oder Katalysator wirkt, zeigte sich auch im Jahre 2005, als die Schweiz sich im Rückspiel der Relegationsrunde in Istanbul das WM-Ticket sicherte und es nach dem Spiel zu massiven Ausschreitungen im Kabinenbereich gekommen sein soll. Im Vorfeld hatte das Verhältnis zwischen der Schweiz und der Türkei einen Tiefpunkt erreicht, nachdem das Waadtländer Kantonsparlament, später auch Genf und der Nationalrat in der Armenierfrage die Ereignisse von 1915 als „Genozid“ qualifiziert und die Türkei daraufhin mehrere Staatsbesuche von Schweizer Ministern abgesagt hatte.“
Er fasst zusammen: Allerdings war es auch hier nicht der Sport und auch nicht der Patriotismus, sondern Politik und Medien, die zu den negativen Begleiterscheinungen beitrugen. Und es ist zweifelhaft, ob gerade sie eine Lösung darstellen. Zu den sozialwissenschaftlichen Einwänden meint er: "Gerade dass nicht wenige Sozialwissenschaftler, Politiker und Journalisten sich in der Rolle des Spielverderbers gefallen, die selbst angesichts des temporär eng beschränkten Party-Patriotismus in Deutschland zu WM-Zeiten das Gespenst des Nationalismus im Lande umgehen sehen, könnte jedoch selbst entscheidend dazu beitragen, dass sich die Begeisterung für die eigene Nationalmannschaft im Wege der Reaktanz zu Chauvinismus auflädt, der dann das Zusammenleben stört. Nicht nur autochthone Deutsche, auch Einwanderer reagieren nicht selten genervt auf die immer wiederkehrenden Mahnungen und Belehrungen seitens meist linksgerichteter Politiker oder der GEW, die regelmäßig im Umfeld von großen Fußball-Turnieren an den damit verbundenen patriotischen Aufwallungen Anstoß nehmen. Nicht selten sind es auch Einwanderer wie der türkische Kioskbesitzer in Berlin-Kreuzberg, der seiner Begeisterung für die DFB-Elf und seiner Verbundenheit mit dem Land durch das Hissen einer großen Deutschlandfahne Ausdruck geben wollte und prompt Probleme mit dem Ordnungsamt bekam. Darüber hinaus klagten viele türkische und arabische Familien in Berlin während der WM 2010 darüber, dass autonome Linksextremisten ihre Fahnen auf Autos und Häusern zerstörten. In diesem Zusammenhang stellt sich zudem die Frage, warum, wenn Patriotismus im Umfeld von Sportveranstaltungen so gefährlich sein soll, dann beispielsweise in den USA, wo Patriotismus täglich allgegenwärtig ist und die Nationalfahne alleine schon dadurch täglich in jedem Haus präsent ist, dass sie alltägliche Dinge wie Verpackungen für Frühstückscerealien schmückt, keinerlei negative Auswirkungen auf das Zusammenleben innerhalb der bunt gemischten Bevölkerung zu verzeichnen sind. Vielleicht liegt es ja weniger am Patriotismus selbst, dass Ereignisse wie die Fußball-WM Ressentiments laut werden lassen, die auch schon vorher da gewesen sein müssen. Es könnte auch daran liegen, dass europäische Politiker und Journalisten diese – auch abseits des Sports und abseits der Turniere – permanent am Kochen halten oder anfachen."
3 Links und Quellen
3.1 Weblinks
- Zu viel WM-Patriotismus in Deutschland?
- Wahn der Normalität - eine Kritik am deutschen WM-Nationalismus
- Fußball-Party-Patriotismus sollte man nicht als harmlos abtun
- Brot und Spiele – Von sozialen Missständen und Party-Patriotismus
- „Das Stadion ist der einzige Ort, wo Abwertungsmuster eine breite Öffentlichkeit erreichen - ohne Sanktionen“
3.2 Literatur
- Ronny Blaschke: Angriff von Rechtsaußen - Wie Neonazis den Fußball missbrauchen, Verlag Die Werkstatt GmbH, 2011
3.3 Siehe auch
- Rassismus-Skandal beim TSV 1860 München
- Forderung: Die deutschen Fussballnationalspieler sollten die Nationalhymne mitsingen
- Rassistische Hetze gegen Mesut Özil
- Verursachen deutsche Flaggen an Autos und Balkonen Schwulenfeindlichkeit, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und andere Übel?
3.4 Einzelnachweise
- ↑ http://www.bild.de/sport/fussball/mesut-oezil/mesut-oezil-erklaert-warum-er-die-hymne-nicht-singt-12757962.bild.html
- ↑ Der Tagesspiegel. Bericht vom 2. Juli 2012
- ↑ Fremdenfeindliche Übergriffe nach WM-Finale
- ↑ Homepage der Grünen Jugend
- ↑ Warum die Fußball-WM nationalistisch ist
- ↑ Ist der Patriotismus zur Fußball-WM gefährlich?
- ↑ Party-Patriotismus auf Abwegen
- ↑ Sozialpsychologin warnt - Nationalstolz bei Fußball-WM kann in Fremdenfeindlichkeit umschlagen
- ↑ Deutsch-Türkisches Journal
Hast du einen Löschwunsch oder ein anderes Anliegen? Dann nutze bitte unser Kontaktformular
PlusPedia Impressum
Bitte Beachte:
Sämtliche Aussagen auf dieser Seite sind ohne Gewähr.
Für die Richtigkeit der Aussagen übernimmt die Betreiberin keine Verantwortung.
Nach Kenntnissnahme von Fehlern und Rechtsverstößens ist die Betreiberin selbstverständlich bereit,
diese zu beheben.
Verantwortlich für jede einzelne Aussage ist der jeweilige Erstautor dieser Aussage.
Mit dem Ergänzen und Weiterschreiben eines Artikels durch einen anderen Autor
werden die vorhergehenden Aussagen und Inhalte nicht zu eigenen.
Die Weiternutzung und Glaubhaftigkeit der Inhalte ist selbst gegenzurecherchieren.