Stalinrede vom 19. August 1939

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Die Stalinrede vom 19. August 1939 ist Gegenstand geschichtswissenschaftlicher Kontroversen. Von der Mehrheit der Historiker wird die Richtigkeit des Textes in Zweifel gezogen bzw. die Auffassung vertreten, dass diese Rede nie gehalten wurde. Rechtsgerichtete Autoren[1][2], einzelne Historiker, vor allem aber die Vertreter der Präventivkriegsthese,[3] aber auch bspw. Tatjana S. Buschujewa[4] halten sie für authentisch.

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1 Erste Veröffentlichung und Dementi

Der Text der Rede wurde nach Kriegsbeginn von der Nachrichtenagentur Havas in Westeuropa verbreitet, nicht aber in Deutschland.[5] Veröffentlicht wurde der Text der Rede am 29. November 1939 in der französischen Tageszeitung le Temps.[6] Ebenfalls im Herbst 1939 erschien der Text in der Genfer Zeitschrift Revue de Droit. Ihr Inhalt wurde von Stalin am 30. November 1939 in der Prawda mit den folgenden Worten dementiert:

„Diese Meldung der Agentur Havas ist wie viele andere ihrer Meldungen ein Lügengeschwätz. Ich kann natürlich nicht wissen, in welchem Café-chantant dieses Lügengeschwätz fabriziert worden ist. Aber wie sehr auch die Herrschaften in der Agentur Havas lügen mögen, so können sie doch nicht in Abrede stellen,
a) daß nicht Deutschland Frankreich und England angegriffen hat, sondern daß Frankreich und England Deutschland angegriffen und damit die Verantwortung für den gegenwärtigen Krieg auf sich genommen haben;
b) daß Deutschland nach der Eröffnung der Kampfhandlungen Frankreich und England Friedensvorschläge unterbreitet, und daß die Sowjetunion diese Friedensvorschläge Deutschlands offen unterstützt hat, weil sie der Auffassung ist und dies auch weiterhin sein wird, daß eine schnellstmögliche Beendigung des Krieges in entscheidender Weise die Lage aller Länder und Völker erleichern würde;
c) daß die herrschenden Kreise Englands und Frankreichs in brüsker Form sowohl die Friedensvorschläge Deutschlands wie auch die Versuche der Sowjetunion, eine schnellstmögliche Beendigung des Krieges zu erreichen, abgelehnt haben. Das sind die Tatsachen.
Was können die Café-chantant-Politiker aus der Agentur Havas dem entgegenstellen?“[7]

Nach dem Beginn des deutschen-sowjetischen Krieges wurde der Text am 12. Juli 1941 im „Journal de Geneve“ veröffentlicht.[8]

2 Inhalt

„Die Frage Krieg oder Frieden tritt für uns in eine kritische Phase“[9], heißt es in dem Dokument, das Stalin zugeschrieben wird. In dem Text werden mögliche Strategien erörtert, welche die Sowjetunion verfolgen könnte: „Wenn wir einen Beistandspakt mit Frankreich und Großbritannien abschließen, wird Deutschland von Polen ablassen und einen Modus vivendi mit den Westmächten suchen. Der Krieg würde vermieden, aber im weiteren Verlauf könnten die Ereignisse einen für die Sowjetunion gefährlichen Charakter annehmen.“[9] Nehme die Sowjetunion hingegen den Vorschlag Deutschlands an und schließe mit den Deutschen einen Nichtangriffspakt, dann würden diese schließlich Polen angreifen. Eine Einmischung Frankreichs und Englands werde daraufhin unvermeidlich. Wörtlich heißt es:

„Westeuropa wird ernsthafte Unruhen und Unordnungen erleben. Unter diesen Umständen haben wir große Chancen, dem Konflikt fernzubleiben, und wir können auf einen günstigen Moment unseres Eintritts in den Krieg hoffen.“[9]

Die Erfahrung der letzten fünf Jahrzehnte zeige, dass unter den Bedingungen des Friedens eine kommunistische Machtergreifung in Westeuropa nicht machbar sei: „Die Diktatur dieser [kommunistischen] Partei ist nur als Ergebnis eines Kriegs möglich.“ Davon ausgehend wird in dem Text appelliert: „Wir müssen den deutschen Vorschlag annehmen und die anglo-französische Mission höflich nach Hause schicken. Der erste Vorteil, den wir erzielen, ist die Vernichtung Polens bis hin zur Stadtgrenze von Warschau, einschließlich des ukrainischen Galizien“. „Deutschland gibt uns volle Handlungsfreiheit in den baltischen Staaten“, heißt es weiter. Die Deutschen hätten auch nichts gegen eine Rückkehr Bessarabiens zu Russland. Das Deutsche Reich sei bereit, Russland einen Einflussbereich in Rumänien, Bulgarien und Ungarn einzuräumen. Offen bleibe lediglich die Frage Jugoslawien. Eine deutsche Niederlage werde aber zwingend zu einem Erstarken der kommunistischen Kräfte in Deutschland führen. Aufgabe der sowjetischen Führung sei es, Deutschland möglichst lange Zeit im Krieg mit den Westmächten zu halten: „Um diese Pläne zu verwirklichen, ist es notwendig, daß der Krieg sich möglichst lange hinzieht.“ Damit ergebe sich ein weites Feld für die Weltrevolution. „Genossen“, so lautet der Appell, „es liegt im Interesse der Sowjetunion, daß der Krieg zwischen dem Reich und dem anglo-französischen Block ausbricht. Wir müssen alles tun, damit dieser Krieg lange dauert, mit dem Ziel, daß beide Seiten sich erschöpfen.“ Die Sowjetunion müsse sich neutral verhalten und ihre Stunde abwarten. Zugleich müsse die kommunistische Propaganda in Frankreich intensiviert werden. Deshalb sei der Nichtangriffspakt mit Deutschland geboten.[10]

3 Echt oder Fälschung?

3.1 Pro Echtheit

Die Frage nach der Authentizität der Rede wurde im Jahr 1994 erneut aufgeworfen, als die russische Historikerin Tatjana S. Buschujewa einen Text publizierte, der unter der Registriernummer 7/1/1223 in den Beständen des Sonderarchivs der UdSSR aufgefunden worden war. Im Dezember 1994 wurde der Text in dem renommierten Moskauer Literaturmagzin Nowyi Mir veröffentlicht.[11] Bei diesem in französischer Sprache verfassten Schriftstück handelt es sich ihrer Meinung nach um die Übersetzung der Rede, die wahrscheinlich von jemandem aus der Komintern angefertigt worden sei, der bei der vermeintlichen Politbürositzung zugegen gewesen war.

Der Historiker und ehemalige Premierminister Estlands, Mart Laar, hält sie für authentisch und sieht darin die Strategie Stalins bestätigt, zu seinen Gunsten in Westeuropa einen Krieg herbeizuführen.[12]

Der Historiker Joachim Hoffmann beruft sich auf den Stalinbiographen, Wolkogonow, der am 16. Januar 1993 in den Iswestija bestätigte, dass an besagtem Tage tatsächlich eine Sitzung stattgefunden habe. Hoffmann kommt zu dem Schluss: „Indessen, allein schon der Umstand, daß Stalin es persönlich für geboten hielt, in der parteiamtlichen PRAVDA am 30. November 1939 umgehend ein dementierendes Interview unter der irreführenden Überschrift ‚Eine lügenhafte Mitteilung der Agentur >Havas<’ zu veröffentlichen, zeigt an, in welchem Maße er sich bloßgestellt fühlte.“[13]

Der russische Historiker Viktor Dorošenko bilanziert, dass der Text „als eines der grundlegendsten Dokumente zur Geschichte des II. Weltkrieges eingestuft werden“ sollte.[14]

3.2 Pro Fälschung

Der deutsche Historiker Eberhard Jäckel hatte die Rede schon im Jahre 1958 als eine billige antikommunistische Fälschung bezeichnet.[15] Der deutsche Historiker Bernd Bonwetsch vermutet, die Rede sei eine Fälschung, die durch den französischen Geheimdienst fabriziert wurde.[16] Der trotzkistische Philosoph, Wadim S. Rogowin, nennt sechs Gründe, warum man den von Buschujewa veröffentlichten Text nur als offenkundige Fälschung ansehen könne:

  1. In der Auflistung der Protokolle des Politbüros für das Jahr 1939 würden keine Sitzungen erwähnt, die am 11. oder 19. August stattfanden.
  2. Vertreter der Komintern hätten niemals an den Sitzungen des Politbüros teilgenommen.
  3. Stalins Richtlinien hinsichtlich des Krieges seien den Kominternführern unbekannt gewesen.
  4. Stalin würden Aussagen zugeschrieben, die zu jener Zeit undenkbar gewesen wären, so z.B. die Bereitschaft Deutschlands, der Sowjetunion Bulgarien und Ungarn als Einflussgebiete abzutreten.
  5. Der von Buschujewa veröffentlichte Text unterscheide sich gravierend von den tatsächlichen Direktiven Stalins an die Komintern.
  6. Als wichtigsten Grund nennt Rogowin den Umstand, dass Stalin selbst vor den meisten Politbüromitgliedern seine Pläne solange geheim gehalten habe, bis die Meldung vom bevorstehenden Besuch Ribbentrops in Moskau erschien.[17]

4 Literatur

  • Eberhard Jäckel: Über eine angebliche Rede Stalins vom 19. August 1939, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 6 (1958), S. 380-389
  • Bernd Bonwetsch: Nochmals zu Stalins Rede am 5. Mai 1941. Quellenkritisch-historiographische Bemerkungen, in: Osteuropa 42 (1992), S. 536-542
  • Bernd Bonwetsch: Stalins Äußerungen zur Politik gegenüber Deutschland 1939-1941, in: Gerd R. Ueberschär / Lev A. Bezymenskij: Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion 1941. Kontroversen um die Präventivkriegsthese, Darmstadt 1998, S. 145-154
  • Joachim Hoffmann: Stalins Vernichtungskrieg 1941-1945. Planung, Ausführung und Dokumentation, 5. überarb. und erg. Aufl., München 1999, S. 25-27

5 Einzelnachweise

  1. Wolfgang Strauß: Unternehmen Barbarossa und der russische Historikerstreit, Kap. Die Stalinrede eine Fälschung? S. 92ff
  2. Adolf von Thadden: Vier Reden Stalins. Ein durchgehender roter Faden, Rosenheim 1996
  3. Viktor Suworow: Der Eisbrecher. Hitler in Stalins Kalkül, Klett-Cotta, Stuttgart 1989, S. 63ff
  4. leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für russische Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften
  5. Bernd Ingmar Gutberlet: Die 50 grössten Lügen und Legenden der Weltgeschichte, Kap. Stalins Kriegsrede. Kühle Planung oder glatt gefälscht? S. 204
  6. Andreas Brückmann: Vom Regionalkrieg zum Weltkrieg. Der 2. Weltkrieg 1939-41, S. 45
  7. Zu einer Lügenmeldung der Nachrichtenagentur Havas. Prawda, 30. November 1939. Deutsche Übersetzung nach Viktor Suworow: Der Eisbecher. Klett-Cotta, Stuttgart 1989. (Text im Russischen)
  8. Die älteren Belegstellen werden wiedergegeben bei Gustav Hilger: Wir und der Kreml, Frankfurt am Main 1964, S. 307f
  9. 9,0 9,1 9,2 Heinz-Dietrich Löwe: Stalin, der entfesselte Revolutionär, Bd. 2, Muster-Schmidt Verlag, 2002, S. 304
  10. Vgl. Carl Gustaf Ströhm: Stalins Strategie für Krieg und Frieden. Geheime Dokumente beweisen: Sowjetischer Diktator hat Hitlers Angriff auf Polen einkalkuliert, Die Welt, 16. Juli 1996
  11. Nowyi Mir, Heft Nr. 12, S.232f
  12. Mart Laar: Europa sieht Deutschland. Die baltische Perspektive. Festvortrag zum Tag der Deutschen Einheit im Rathaus der Stadt am 3. Oktober 2005, in: Kulturelle Vielfalt – Grenzen der Toleranz? Osnabrücker Jahrbuch. Frieden und Wissenschaft. 13 / 2006, S. 206. Laar meint: „Stalin war sehr interessiert, diesen Vertrag zu schließen, wie seine geheime Rede im Politbüro vom 19. August 1939 zeigt. Darin begründete er, warum man mit einem Diktator wie Hitler einen solchen Pakt schließen müsse. Stalin sagte, »wir brauchen einen Krieg, und wenn wir diesen Pakt nicht unterschreiben, wird Hitler keinen Krieg beginnen«.“ Text der Rede verfügbar: http://www.ofg.uni-osnabrueck.de/jahrbuch-pdf/2006/JB2006-MartLaar.pdf
  13. Joachim Hoffmann: Stalins Vernichtungskrieg 1941-1945: Planung, Ausführung und Dokumentation, 5. überarb. und erg. Aufl., München 1999, S. 25-27
  14. Viktor Dorošenko, zit. nach: Stefan Voß: Stalins Kriegsvorbereitungen 1941 – erforscht, gedeutet und instrumentalisiert. Eine Analyse postsowjetischer Geschichtsschreibung, Hamburg 1998, S. 24.
  15. Eberhard Jäckel: Über eine angebliche Rede Stalins vom 19. August 1939. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 6 (1958), S. 380-389, S. 383
  16. Bernd Bonwetsch: Stalins Äußerungen zur Politik gegenüber Deutschland 1939-1941, in: Ueberschär/Bezymenskij (Hg.): Der deutsche Angriff, S. 147ff
  17. Wadim S. Rogowin: Weltrevolution und Weltkrieg, Essen 2002, S. 269

6 Andere Lexika

  • Dieser Artikel wurde in der Wikipedia gelöscht.



Erster Autor: Peter Schum angelegt am 12. Jun. 2011 um 14:46 Uhr, weitere Autoren: Homo Sovieticus, Hozro, GT1976, Phi, WWSS1, Miraki

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