Jüdischdeutsche Volkslieder aus Galizen und Russland (Sammlung von Gustaf Hermann Dalman)

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Bild 1: Deckblatt der Sammlung Jüdischdeutsche Volkslieder aus Galizen und Russland

Jüdischdeutsche Volkslieder aus Galizen und Russland [1] eine 1888 erstmalig erschienene [2] Sammlung [3] jiddischer Lieder des Religionswissenschaftlers Gustaf Hermann Dalman. Nach heutigem Verständnis ist der angebliche Volksliedcharakter der Sammlung genauso wie gewisse antijudaistische Elemente in Dalmans Vorwort und der Auswahl einiger Lieder teils auch kritisch zu sehen.

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1 Entstehung, Zielsetzung und Rezeption

Dalman (* 1885-1941) war protestantischer Theologe und schrieb vor allem über die Beziehungen zwischen Juden und Christen. Obwohl er selber kein Jude war, kann man ihn trotz gewisser antijudaistischer Vorurteile als Philosemiten bezeichnen, der aktiv für die Selbständigkeit des modernen Judentums als Religion und Kultur plädierte.

Der insgesamt nur 74 Seiten umfassende Band bietet die Texte von 17 jiddischen Liedern ohne Musiknoten. Er gilt nach Philip V. Bohlman als "erste wissenschaftliche Sammlung jiddischer Lieder in Mitteleuropa". [4]

Mit der Auswahl der Lieder verbindet Dalman auch volkspädagogische Ziele, d.h. er will die Juden "erziehen". Im Vorwort schreibt er dazu:
Bild 2: Um 1935 entstandenes Portrait von Gustaf Hermann Dalman
"Auch die von mir mitgeteilten Lieder sind keineswegs tendenzlos. Sie wollen Unsitte und Aberglaube geißeln, Bildung und Rechtlichkeit dagegen preisen, echte Religiosität beleben und stärken. Den religiösen und sozialen Fortschritt vertreten sie gegenüber jeglicher Erstarrung und Verbildung, alles aber im Interesse eben des jüdischen Volkes." [5]

Dalman geht in seiner Sammlung streng philologisch vor: Zu jedem Lied des Bandes sind Erklärungen und Anmerkungen beigefügt, welche die Herkunft der Worte nicht nur aus den slawischen Lehnwörtern des Jiddischen, sondern auch aus mittel- und althochdeutschen Wurzeln deutlich machen. Der Titel der Sammlung und Dalman selber sehen die Lieder der Sammlung als Volkslieder. So schreibt Dalman im Vorwort:

"Als Volkslieder können diese Lieder russischer und galizischer Israeliten betrachtet werden, einmal, weil das jüdische Volk des Ostens sie sich wirklich zu eigen gemacht hat." [6]
Dennoch sind die Lieder nach heutigem Verständnis keine Volkslieder im traditionellen Sinn, sondern eher populäre, meist von professionellen Komponisten, Dichtern und Sängern geschriebene Titel. So stammen zwei Lieder von Abraham Goldfaden, einem der Begründer des Jiddischen Theaters. Andere Titel stammen von den in Galizien professionell aktiven Sängern Wolf Ehrenkranz (besser bekannt als Welwel Zbarzer) sowie Bajrach Benedikt Schafir. Diese Kritik am fehlenden Volksliedcharakter der Sammung wurde bereits kurz darauf z.B. von Saul Moiseevich Ginsburg und Pesach Marek im Vorwort ihrer im Jahr 1901 erschienen Sammlung Evreiskie narodnye pesni v Rossii [7] (dt.: Jüdische Volkslieder in Russland) in folgenden Worten vorgebracht:
Bild 3: Textausschnit aus Das Kischinewer Lied [8]
"Die von G. Dalman herausgegebene Sammlung Jüdischdeutsche Volkslieder aus Galizien und Russland hat trotz ihres verlockenden Titels nur einen ganz entfernten Bezug zum Gegenstand unseres Interesses: Sie enthält siebzehn Lieder, die sich als Werke einiger bekannter Mundartdichter herausstellen (A. Goldfaden, S. Bernstein, I. Lineckij, E. Cunzer u.a.). Der Großteil dieser Lieder erfreut sich wirklich großer Popularität bei der jüdischen Bevölkerung. Bei solchen eher modernen Liedern handelt es sich aber nicht um Volksliedschöpfungen." [9]

Alexander Eliasberg merkt in seinem 1918 erschienenen Buch Ostjüdische Volkslieder zu Dalmans Sammlung an:

"Das unter dem vielversprechenden Titel Jüdisch-deutsche Volkslieder aus Galizien und Rußland vom bekannten Hebraisten Gustaf Dalman herausgegebene Buch enthält lauer Kunstlieder und kein einziges wirkliches Volkslied." [10]

2 Die einzelnen Lieder

Die Titel der Lieder lauten: Das Jüdel / Das Pintele Jüd / Schalom alêchem / Ereb Jom Kippur / Der Chasid beim Schalischudes / Maschiachszeiten / Der Chasid kommt von Wien / Der Bankrott / Lied von der Blum / Die Stimme Jakobs / Geschichte von Galatz / Am Olam / Gruss an Zion / Chazoth / Die Jungfrau von Juda / Das Kischinewer Lied / Israel und sein Maschiach.

Der die Sammlung eröffnende Titel Das Jüdel beschreibt Leid und die Diskriminierungen der weltweit verstreut lebenden Juden die dennoch nicht verzagen und mit Glaube und Gottvertrauen weiter machen folgendermaßen:

jidd.: "Mutsche ihm, nehm ihm die Kochos araus, er lebt mit Bittachon un steht das all`2 aus. (...) Berabbewe sein Kabod, er ist da bei ihm fort, Gieb ihm kein Recht, Er derschlagt sich zum Ort. (...) Sein Panzer ist Bittachon, Emuna sein Schwert."
dt.: "Quäl ihn, nimm ihm die Kräfte, er lebt mit Gottvertrauen/Zuversicht und steht alles durch (...) raub ihm seine Ehre, sie bleibt dennoch bei ihm, gib ihm kein Recht und doch schlägt er sich durch. (...) Sein Panzer ist Gottvertrauen, der Glaube sein Schwert."

Das Lied plädiert mit folgenden Worten auch für eine bessere Behandlung der Juden durch die Mehrhheitsgesellschaft:

jidd.: "Gieb ihm ab Kabod Un halt ihm nit klein."
dt.: "Gib ihm Ehre und halt ihn nicht klein."

Das Lied Das Pintele Jüd (dt.: Der echte Jude) beschreibt das jüdische Volk als ruheloses, überall zerstreutes - verfolgt aber schließlich triumphierend, geschäftstüchtig aber gehasst, sündig aber letztendlich reuig, von Gott bestraft aber schließlich von ihm vergeben [11] - und beginnt mit folgendem Lobpreis auf das jüdische Volk:

jidd.: "Ich hab dich lieb, mein Volk, du teuere Umme, du starke, du schöne, du feine, du frumme. Ich hab dich lieb dein Emuna, dein heilige Thora - Noch in Wiegel hab ich gehört: Das ist die beste Sechora."
dt.: "Ich liebe dich mein Volk, du teure Nation, du starkes, du feines, du frommes. Ich liebe deinen Glauben, deine heilige Tora - Bereits in der Wiege vernahm ich: Das ist das beste Gut."

Aus heutiger Sicht befremdlich wirkt der an manchen Stellen nicht zu überhörende Antijudaismus im Vorwort und einigen Liedern der Sammlung. So sieht Dalman eine positive Zukunft der Juden einzig in einem Aufgehen in der Mehrheitsgesellschaft und ihrer Konversion zum Christentum (siehe Judenmission) und schreibt dazu:

"Mögen dann diese Lieder, die durch ihre häufig wenig ästehtische Form auf den oberflächlichen Leser mehr abstossend als anziehend wirken, hier und da doch einen aufrichtigen Freund gewinnen dem Volke, unter dem trotz jahrhunderterlanger Unterdrückung und Verbildung noch keinenwegs jede edle Empfindung erloschen ist. Wahr bleibt freilich, dass nur die am Schlusse der Sammlung stehenden Lieder das Rätsel von Israels Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wirklich lösen und klar zu sagen wissen, was diesem Volke not thut. Der Schlüssel, den die Dichter dieser Lieder kennen, ist aber Jesus von Nazaret, der "Bund des Volkes und das Licht der Völker", in welchem alle die verschlungenen Fäden des Welt- und Völkerlebens sich wunderbar entwirren." [12]
So wird z.B in Das Kischinewer Lied (siehe Bild 3) den Juden mit folgenden Worten vorgeworfen sich nicht schon lange zu Jesus Christus bekannt zu haben. Einzig die Konversion zum Christetum könne sie vom Schicksal der Diaspora erlösen:
Bild 4: Textausschnit aus Israel und sein Maschiach
"Leider, Leider, waren unsere Großväter sehr kurzsichtig. Sie haben über ihn (Anm.: Gemeint ist hier Jesus) schlecht geredet, und gar nicht gesehen wie wichtig er ist. Wir aber, ihre Kinder, die alles erlebt haben, und die Wahrheit seiner Wunder sahen, müssen ihn auf jeden Fall lieben. Heda, heda! Israel, streck deine Hände aus, nimm ihn (Anm.: Gemeint ist hier erneut Jesus) in die Arme und küss ihn unzählige mal, mach mit deiner Diaspora ein Ende." [13]

Im Lied Israel und sein Maschiach (siehe Bild 4) ist von einer Art Erbschuld der Juden die Rede. Ob damit gemeint ist, dass die Juden sich seit Jesu Tod nicht zum Christentum haben bekehren lassen oder ob gar der antijudaistische Vorwurf des Gottesmordes gegen sie erhoben wird ist aufgrund des Textes nicht eindeutig. Die Rettung der Juden liegt hier ebenfalls in der Hinwendung zu Christus. Im Text heißt es u.a.:

"Meine Eltern sind schuldig geworden und schon lange nicht mehr da, und wegen dem an was sie sich versündigt haben trage ich Bemitleidenswerter eine schwere Strafe. Wegen ihrem großen Verbrechen, was sie begangen haben weil sie vernarrt waren, bin ich Armer verstoßen worden und werde hart bestraft. Ach, ich kann die Schuld schon nicht mehr tragen, ja ich seh schon und bin nicht mehr blind, will laut aufschreien und sagen: Du bist meines, Gottes heiliges Kind. (...) Oh, Jesus! Du heiliges Kind Gottes, an dich glaube ich jetzt schon ernsthaft, du bist meine Leben, meine Welt! Mit großer Freud komm ich zu dir. Breite deine Flügel über mir aus, nimm mich auf in dein heiliges Haus! Ich zieh meine kotigen Schuhe vor deinem Hause aus weil du mein Messias bist. Mein Blut hast du vergossen vor mir. Ach! Ich weiß es jetzt sicher, sei mir gnädig du heiliges Kind Gottes, und verstoß nicht mehr von dir."

3 Weblinks

4 Literatur

  • Philip V. Bohlman: Jüdische Volksmusik - eine Mitteleuropäische Geistesgeschichte, Böhlau Verlag, Wien, 2005, Seite 35 bis 39

5 Siehe auch

6 Einzelnachweise

  1. Anm.: Deutschjüdisch war bis um 1910 die gängige Bezeichnung für die jiddische Sprache.
  2. Elvira Grözinger und Susi Hudak-Lazić (Hrsg.): "Unser Rebbe, unser Stalin - " - jiddische Lieder aus den St. Petersburger Sammlungen von Moishe Beregowski (1892-1961) und Sofia Magid (1892-1954), Otto Harrassowitz Verlag, 2008, S. 51
  3. Anm.: Die Sammlung ist nicht zu verwechseln mit Dalmans 1893 erschienener Sammlung Jüdische Melodien aus Galizien und Russland, die auch Notationen der Melodien enthält (siehe Gustaf Dalman: Jüdische Melodien aus Galizien und Russland, Robolsky, Leipzig, 1893)
  4. Philip V. Bohlman: Jüdische Volksmusik - eine Mitteleuropäische Geistesgeschichte, Böhlau Verlag, Wien, 2005, S. 35
  5. Gustaf Hermann Dalman: Jüdisch-deutsche Volkslieder aus Galizien und Russland, Centralbureau der Instituta Judaica (W. Faber), 1888, S. V
  6. Gustaf Hermann Dalman: Jüdisch-deutsche Volkslieder aus Galizien und Russland, Centralbureau der Instituta Judaica (W. Faber), 1888, S. IV
  7. Raphael Patai: Encyclopedia of Jewish Folklore and Traditions, Routledge, 2015, S. 172
  8. Gustaf Hermann Dalman: Jüdisch-deutsche Volkslieder aus Galizien und Russland, Centralbureau der Instituta Judaica (W. Faber), 1888, S. 70
  9. zitiert nach S.M. Ginsburg und P.S. Marek: Evreiskie narodnye pesni v Rossii, St. Petersburg, 1901; Nachdruck von Dov Noy (Hrsg.), Ramat Gan, Bar-Ilan University Press, 1991; aus dem Russischen übersetzt von Franziska Pietsch-Stockhammer in Philip V. Bohlman: Jüdische Volksmusik - eine Mitteleuropäische Geistesgeschichte, Böhlau Verlag, Wien, 2005, S. 63
  10. Alexander Eliasberg: Ostjüdische Volkslieder, Georg Müller, München, 1918, S. 8
  11. Joel Berkowitz: Avrom Goldfaden`s theatre of Jewishness - Three prooftexts; in Glenda Abramson und Hilary Kilpatrick (Hrsg.): Religious Perspectives in Modern Muslim and Jewish Literatures, Psychology Press, 2006, S. 259
  12. Gustaf Hermann Dalman: Jüdisch-deutsche Volkslieder aus Galizien und Russland, Centralbureau der Instituta Judaica (W. Faber), 1888, S. VIII
  13. Eigene Übersetzung aus dem Jiddischen. Das Original in Jiddisch ist in Bild 3 zu sehen.

7 Andere Lexika

Wikipedia kennt dieses Lemma (Jüdischdeutsche Volkslieder aus Galizen und Russland (Sammlung von Gustaf Hermann Dalman)) vermutlich nicht.




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