Jüdischer Selbsthass

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Der umstrittene Begriff Jüdischer Selbsthass bezieht sich auf eine angebliche Haltung einzelner Juden, sich in einer überkritischen und/oder selbstzerstörerischen Weise gegen die eigene Kultur und Identität zu wenden. Er kann ebenso wie der Deutsche Selbsthass großer Teile der deutschen Linken auf eine gestörte Identitätsbildung und mangelnde Kenntniss und Verarbeitung der eigenen Geschichte zurückgeführt werden, und ist somit als pathologisches Phänomen anzusehen. Ein angeblich Jüdischer Selbsthass wird mitunter auch unter dem Begriff Jüdischer Antisemitismus abgehandelt.

In diffamierender Intention wird der Begriff auch auf jüdische Personen wie Noam Chomsky, Norman Finkelstein, Evelyn Hecht Galinski, oder Alfred Grosser angewandt, die sich nur selbstkritisch mit einigen Elementen der jüdischen Kultur und Geschichte sowie der aktuellen Politik Israels gegenüber den Palästinensern auseinander setzen, um diese jüdischen Personen damit unter generellen Antisemitismusverdacht zu stellen. [1] [2]

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1 Begriffsbildung

  • Die Wendungen Jüdischer Selbsthass und Jüdischer Antisemitismus wurden innerhalb der deutsch-jüdischen Publizistik um die Wende zum 20. Jahrhundert geprägt. [3]
  • Jüdischer Selbsthass trat häufig dort auf wo aufgrund von Wanderungsbewegungen, wie z.B. in Deutschland und Österreich ab 1880, assimilierte und gebildete Juden aus dem gehobenen Bürgertum auf die ungebildteten und bäuerlichen Schichten zugehörigen Ostjuden trafen. Die Westjuden empfanden die Ostjuden vielfach als ungebildete, verwahrloste und runtergekommene Gestalten. [4] [5] Jens Malte Fischer schreibt dazu:
Der vielseitig gefährdete jüdische Kleinbürger, der es gerade geschafft hatte oder gerade zu schaffen glaubte, in die westeuropäische Bourgoisie einzutreten wie auch der erfolgreich assimilierte jüdische Großbürger - sie beide konnten durch den Vetter aus Lodz, der jiddisch sprach und in Kleidung und Haartracht, ganz zu schweigen von den religiösen Gebräuchen abstach, doch erheblich verunsichert werden. [6]
  • Der Zionist Theodor Herzl diffamierte schon im Jahr 1896 in seinem Buch Der Judenstaat einige assimilierte Juden ebenfalls als "Antisemiten jüdischen Ursprungs":
Es ist ein heimlicher Jammer der Assimilirten, der sich in „wohlthätigen“ Unternehmungen Luft macht. Sie gründen Auswanderungsvereine für zureisende Juden. Diese Erscheinung enthält einen Gegensinn, den man komisch finden könnte, wenn es sich nicht um leidende Menschen handelte. Einzelne dieser Unterstützungsvereine sind nicht für, sondern gegen die verfolgten Juden da. Die Aermsten sollen nur recht schnell, recht weit weggeschafft werden. Und so entdeckt man bei aufmerksamer Betrachtung, dass mancher scheinbare Judenfreund nur ein als Wohlthäter verkleideter Antisemit jüdischen Ursprungs ist. [7]
  • 1902 erschien eine erste Sammlung von Aufsätzen des jüdischen Politikers und späteren deutschen Außenministers Walter Rathenau, in denen auch der Aufsatz "Höre Israel" erschien in welchem Rathenau u.a. den "arischen Typ" bewunderte. Dies wurde von einigen jüdischen Pressevertretern als Ausdruck jüdischen Selbsthasses und antisemitischen Denkens gewertet und Rathenau wurde öffentlich des Antisemitismus beschuldigt. Rathenau wurde z.B. von Peter Loewenberg im Jahr 1975 als Paradebeispiel für Jüdischen Selbsthass angeführt. [8]

2 Definitions- und Erklärungsversuche

  • Jüdische Autoren haben sich schon früh mit dem angeblichen Jüdischen Selbsthass auseinandergesetzt. Arnold Zweig schrieb im Jahr 1927, dass der jüdische Selbsthass eine Form der Ich-Entwertung und Verneinung des eigenen Wesens sei. Der Kulturphilosoph Theodor Lessing verfasste im Jahr 1930 das Buch "Der jüdische Selbsthass", in dem er diesen als psychopathologisches Problem definierte. Selbsthass ist nach Lessing kein spezifisch jüdisches sondern ein allgemein menschliches Phänomen, welches aber in seinen Worten "an der Psychopathologie der jüdischen Volksgeschichte besonders glänzend beleuchtet werden kann". [9] In seinem Buch zum Thema behandelte Theodor Lessing u.a. die von ihm für exemplarisch erklärten Paul Rée, Otto Weininger, Arthur Trebitsch, Max Steiner, Walter Calé und Maximilian Harden. [10]
  • Gilman Sander erklärte die Entstehung von jüdischem Selbsthass aus der geschichtlich lang andauernden Position der Juden in der gesellschaftlichen Minderheitsrolle und einer psychologischen Identifikation mit dem Agressor. Er entstehe dann,
... wenn Juden aus der begründeten Angst davor, als solche behandelt zu werden, danach streben, sich mit dem Angreifer zu identifizieren. [11]
  • Nach dem amerikanischen Psychater Kenneth Lewin beruhe der Jüdische Selbsthass in Analogie zum Stockholm-Syndrom auf der Entwicklung eines positiven emotionalen Verhältnisses der Opfer zu den Tätern, bei dem die Opfer auch die Ansichten der Täter internalisieren, sowie der Erfahrung dass missbrauchte bzw. misshandelte Kinder sich selber häufig für schuldig an der Tat und generell minderwertig halten. [12]

3 Kritik am Begriff an sich

  • Allan Janik lehnt einen speziellen Begriff des Jüdischen Selbsthasses dagegen ab. Für ihn ist die Ablehnung der eigenen Herkunft ein Identitätsproblem welches auch bei anderen gesellschaftlichen Gruppen auftritt, ohne dass man hierfür extra eigene Begriffe definiert und Untersuchungen anstellt. [13]
  • Auch Autoren wie Gershom Scholem lehnen das Konzept des Begriffs Jüdischer Selbsthass ab, welches letztlich nur die individuellen Neurosen einzelner Juden beschreibe, und die Gefahr in sich berge dass damit ein Jude dem anderen Juden wilkürlich ein unangemessenes Verhältnis zur jüdischen Identität vorwerfen kann. [14]
  • Nach Jeffrey Gorssman wirft der Begriff Jüdischer Selbsthass als Erklärungsmuster für das Verhalten jüdischer Intellektueller mehr Probleme als, als er meint zu lösen. Der Begriff tendiere vor allem dazu, eine normative Definition von jüdischer Identität zu fordern, die spätestens seit der jüdischen Aufklärung (Haskala) nicht mehr zu Verfügung stehe. [17]

4 Beispiele für jüdischen Selbsthass

Im folgenden einige Zitate die als Beispiel für jüdischen Selbsthass gewertet werden können aber nicht müssen.

Wir haben keine Wurzeln in der Scholle; es gibt kein Boden unter unseren Füßen. Und wir sind Parasiten - nicht nur im ökonomischen Sinn, sondern auch im Geist, in den Gedanken, in der Poesie, in der Literatur und in unseren Tugenden und unseren Idealen. [18]
  • Als Beispiel für Jüdischen Selbsthass führt die Literatur häufig den konvertierten Juden Otto Weininger an. Dieser sah in Judentum und Weiblichkeit die gleichen negativen Aspekte am Werk. Der Jude sei nach Weininger auf Grund seines "weiblichen Wesenskerns stets lüstern und geil". Die Juden müssten "gegen sich kämpfen und innerlich das Judentum in sich besiegen" um Männer zu werden.
Weg vom Judentum, [...] wollten die meisten, die deutsch zu schreiben anfingen, sie wollten es; aber mit den Hinterbeinchen klebten sie noch am Judentum des Vaters, und mit den Vorderbeinchen fanden sie keinen neuen Boden. Die Verzweiflung darüber war ihre Inspiration. [19]

5 Literatur

  • Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthaß (1930), mit einem Vorwort von Boris Groys, Matthes & Seitz Verlag, München, 2004
  • Sander Gilman: Jüdischer Selbsthaß. Antisemitismus und die verborgene Sprache der Juden, Frankfurt am Main, 1993
  • Marie Haller-Nevermann: Jüdische Herkunft und ihre Negation - Jude und Judentum im Werk Anna Seghers’; in Argonautenschiff 6, 1997, S. 307-323
  • Walter Grab: „Jüdischer Selbsthaß“ und jüdische Selbstachtung in der deutschen Literatur und Publizistik 1890 bis 1933; in: Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, hrsg. von Horst Denkler und Hans Otto Horch, Tübingen, 1989, S. 313-336
  • Carsten Schapkow: Judenbilder und jüdischer Selbsthaß - Versuch einer Standortbestimmung Ernst Tollers«; in Ernst Toller und die Weimarer Republik - Ein Autor im Spannungsfeld von Literatur und Politik, hrsg. von Stefan Neuhaus, u.a., Würzburg 1999, S. 71-87

6 Andere Lexika

7 Einzelnachweise

  1. Hier diffamiert Arno Lustiger Noam Chomsky, Evelyn Hecht Galinski und Alfred Grosser als von Jüdischem Selbsthass angetriebene Antisemiten
  2. Auch der Artikel Jüdischer Selbsthass der deutschsprachigen Amateur-Onlineenzyklopädie Wikipedia in den Anfangsversionen zählte diese Personen und etliche andere ohne genauere Begründung in einer listenförmigen Aufzählung einfach mal wilkürlich zur Kategorie Jüdische Selbsthasser. Der gänzlich unreferenzierte Mini-Artikel samt wahlloser Liste wurde vom Wikipedia-Benutzer Michael Kühntopf auch sofort sehr gelobt. Erst nachdem der Wikipediabenutzer Elektrofisch - dessen Hauptbeschäftigung das Hinterherschnüffeln in Bezug auf die Edits anderer Leute in Wikipedia und Pluspedia ist - auf den Pluspediaartikel und die Kritik an der Liste hier aufmerksam wurde und einen Löschantrag in der Wikipedia stellte, tat sich in der Wikipedia etwas. Die Benutzer Michael Kühntopf und Ca$e nahmen die Liste die sie früher nicht störte heraus und peppten den Artikel noch schnell notdürftig mit ein paar abgeschriebenen Referenzen aus dem Pluspediaartikel auf, um somit bessere Chancen zu haben die Löschdiskussion in der Wikipedia überstehen zu können. Schließlich kopierte eine neu erstellter Wikipediaaccount namens Der Jude einfach ganze Textblöcke aus dem Pluspediaartikel in den Wikipediaartikel. Damit hat sich Wikipedia endgültig auf ein unkreatives Plagiats- und URV-Niveau wie manch andere Mini-Wikis begeben.
  3. Matthias Hambrock: Die Etablierung der Aussenseiter - Der Verband nationaldeutscher Juden 1921-1935, Böhlau Verlag, Köln - Weimar - Wien, 2003, S. 521; Gilman 1993, 210 ff.
  4. Daniel Felleiter: "Jüdischer Selbsthaß" - Eine Betrachtung der Ansätze von Theodor Lessing,Otto Weininger und Sigmund Freud, GRIN-Verlag, 2010, S. 7
  5. Anm.: Hagalil schreibt zu den Spannungen zwischen Ost- und Westjuden: "Letztere werden im allgemeinen mit geringer Assimilation und orthodoxer Religiosität in Verbindung gebracht. Während im Westen der Großteil der Juden zum Bürgertum aufgestiegen war, gehörten die Ostjuden weiter der Unterschicht oder der niederen Mittelschicht an. Die Geburtenrate war dort hoch, die Mischehenrate sehr gering. Die klassisch ökonomische Stellung war die des Mittlers zwischen Stadt und Land. Die jüdische Aufklärung, die Haskala, setzte hier sehr spät und zögerlich ein. Das Stereotyp des Ostjuden hatte damit im Westen einen eindeutig negativen Beiklang bekommen, zumal man fürchtete, die unzivilisierten Ostjuden könnten die eigene Assimilation gefährden."; Online auf Das Schtetl Wirtschaftliche und soziale Strukturen der ostjüdischen Lebensweise
  6. Jens Malte Fischer: Jahrhundertdämmerung, Verlag P. Zsolnay, 2000, S. 142
  7. Herzl in der Einleitung zum Buch Der Judenstaat
  8. Peter Loewenberg: Antisemitismus und jüdischer Selbsthass; in Geschichte und Gesellschaft 5, 1975, S. 455-475
  9. Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthaß, Matthes & Seitz, München, 1984, S. 27
  10. Monika Rappenecker: Jüdische Intellektuelle im 20. Jahrhundert, Königshausen & Neumann, Würzburg, 2003, S. 84
  11. Gilman Sander: Jüdischer Selbsthass, Antisemitismus und die verborgene Sprache der Juden, Jüdischer Verlag, Frankfurt a. M., 1993, S. 38
  12. Kenneth Levin: "The Psychology of Populations under Chronic Siege" - Post-Holocaust and Anti-Semitism, No. 46, Jerusalem Center for Public Affairs, 2006, Online auf www.jcpa.org
  13. Allan Janick: Die Wiener Kultur und die jüdische Selbsthass-Hyphothese; Gerhard Botz (Hrsg.): Zerstörte Kultur - Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert, Wien, 2002, S. 123
  14. Daniel Felleiter: "Jüdischer Selbsthaß" - Eine Betrachtung der Ansätze von Theodor Lessing,Otto Weininger und Sigmund Freud, GRIN-Verlag, 2010, S. 2
  15. Er schreibt: "... one that serves no other purpose than to marginalise and demonise political opponents"; in Antony Lerman: Jewish Self-Hatred: Myth or Reality?, in Jewish Quarterly; Online auf Jewish Self-Hatred : Myth or Reality ? - Antony Lerman contextualises the time-worn accusation
  16. Arno Lustiger diffmiert Noam Chomsky, Evelyn Hecht Galinski und Alfred Grosser als von Jüdischem Selbsthass angetriebene Antisemiten
  17. Jeffrey Gorssmann: 'Die Beherrschung der Sprache': Funktionen des Jiddischen in der deutschen Kultur von Heine bis Frenzel, in: Jürgen Formann / Helmut J. Schneider (Hgg.): 1848 und das Versprechen der Moderne, Königshausen & Neumann, Würzburg 2003, S. 165-179, hier S. 165.
  18. Zitiert nach Hajo G. Meyer: Judentum, Zionismus, Antizionismus und Antisemitismus - Versuch einer Begriffsbestimmung, Frank & Timme, 2009, S. 68
  19. Zitiert nach Peter-André Alt: Franz Kafka - Der ewige Sohn - Eine Biographie, C. H. Beck, 2. Aufl., 2008, S. 69

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