Hölderlins Krankheit

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Die Krankheit des deutschen Dichters Friedrich Hölderlin (1770-1843) hat die seit der Aufklärung als medizinische Disziplin formierende Psychiatrie beschäftigt. Erste Anzeichen gab es zum Beispiel 1795, als er mit Zeichen der Verwahrlosung in Nürtingen ankam, und 1802, als er Stuttgart auch offenbar in verwahrlostem und verwirrtem Zustand erreichte. 1804 entstand sein Gedicht Hälfte des Lebens. Nach der Verhaftung seines Freundes Isaac von Sinclair als Jakobiner (1805) gab es auch Ermittlungen gegen Hölderlin. Das Consistorium, welches die Aufsicht über das von Hölderlin besuchte Tübinger Stift hatte, schrieb auf Anfrage, es „sei zu bedauern, daß die sehr kranke Tätigkeit seiner Phantasie bald seine Hauptbestimmung entrückt habe, so daß er bei Kirchengeschäften und auf Vikariaten nicht habe gebraucht werden können.“[1] Der Homburger Arzt und Hof-Apotheker Müller berichtete in einem Gutachten vom 9. April 1805, Hölderlin sei zerrüttet und sein Wahnsinn in Raserei übergegangen. Im August 1806 schrieb Sinclair an Hölderlins Mutter, er könne für seinen Freund nicht mehr sorgen. Am 11. September 1806 wurde Hölderlin zuerst unter dem Vorwand, Bücher für die landgräfliche Bibliothek zu kaufen, dann schließlich mit Gewalt von Homburg nach Tübingen in das von Johann Heinrich Ferdinand Autenrieth 1805 gegründete und geleitete Universitätsklinikum geschafft. Spätestens von diesem Zeitpunkt an galt Hölderlin seinen Zeitgenossen als wahnsinnig. Im Tübinger Klinikum erfolgte eine 231-tägige, für damalige Verhältnisse als fortschrittlich angesehene (Zwangs-)Behandlung, offenbar unter der autenriethschen Diagnose einer „Manie als Nachkrankheit der Krätze“.[2] Über die genauere Behandlung, mit deren Durchführung Autenrieth den Medizinstudenten Justinus Kerner beauftragte, ist wenig bekannt. Sicher ist jedoch, dass Hölderlin mindestens einmal, vermutlich aber wiederholt vierwöchige Zyklen medikamentöser Behandlungen über sich ergehen lassen musste. Diese provozierten neben möglichen Phasen von Sedierung und Beruhigung insbesondere intensive, sicher schmerzhafte und anhaltende (z. T. blutige) Durchfälle. Aus den ersten Behandlungswochen stammt auch die einzige Überlieferung, welche Einblick in die Behandlungssituation gewährt: „Uhland studiert izt Schelling, und Autenrieth hilft dem gefallenen Titanen Hölderlin laxieren und macht ihm einen bösen Kopf.“ (Brief von Gustav Schoder aus der Krankenstube des Tübinger Klinikums am 3. Oktober 1806 an seinen Freund Immanuel Hoch)[3] Im historischen Rückblick scheint die Behandlung in vielen Phasen eine geradezu traumatische Qualität aufgewiesen zu haben, so dass sie das weitere psychische Befinden Hölderlins sicher nicht verbessert haben wird.[4] Sicher ist, dass Hölderlin mindestens einmal, vermutlich aber wiederholt vierwöchige Zyklen medikamentöser Behandlungen über sich ergehen lassen musste. Diese provozierten neben möglichen Phasen von Sedierung und Beruhigung insbesondere intensive, sicher schmerzhafte und anhaltende (z. T. blutige) Durchfälle. Aus den ersten Behandlungswochen stammt auch die einzige Überlieferung, welche Einblick in die Behandlungssituation gewährt: „Uhland studiert izt Schelling, und Autenrieth hilft dem gefallenen Titanen Hölderlin laxieren und macht ihm einen bösen Kopf.“ (Brief von Gustav Schoder aus der Krankenstube des Tübinger Klinikums am 3. Oktober 1806 an seinen Freund Immanuel Hoch)[5] Im historischen Rückblick scheint die Behandlung in vielen Phasen eine geradezu traumatische Qualität aufgewiesen zu haben, so dass sie das weitere psychische Befinden Hölderlins sicher nicht verbessert haben wird.[6] Am 3. Mai 1807 wurde er als unheilbar entlassen.[7]

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1 Forschungsgeschichte

Ausgehend von spärlichen Überlieferungen und geprägt durch die literarisch verarbeiteten Erfahrungen von Zeitzeugen, blieb Hölderlins Krankheit bis 1900 nur eine Randnotiz im psychiatrischen Diskurs.[8] Das Interesse an einer Diagnose ging dabei zunächst nicht von den Psychiatern, sondern vielmehr von Literaturwissenschaftlern aus. Der Germanist Franz Zinkernagel bemühte im Interesse eines Ausschlusses der als „krank“ zu wertenden – und damit für die Gesamtausgabe zu verwerfenden (da „sinnlosen“) – Gedichte den Tübinger Psychiater Robert Eugen Gaupp mit der Frage, den exakten Zeitpunkt des Beginns der Erkrankung zu fixieren. Gaupp wiederum beauftragte seinen Assistenten Wilhelm Lange-Eichbaum, der bei Emil Kraepelin zur Dementia praecox (später: Schizophrenie) promoviert hatte.[9][10] Dieser findet zwar nicht die bis heute verschollene Krankengeschichte, welche Justinus Kerner im Auftrag Autenrieths geführt haben muss, aber immerhin das Rezeptbüchlein, die bis heute einzige direkte Quelle über Hölderlins Behandlung im Tübinger Klinikum. In seiner 1909 erschienenen Arbeit „Hölderlin“ vertritt er vor dem Hintergrund eines positivistischen Wissenschaftsverständnisses psychiatrischer Krankheitskategorien im Stile Kraepelins die These, dass Hölderlin ab Mai 1801 an einer schizophrenen Erkrankung litt.[11] Sowohl in Langes, als auch in Zinkernagels Sicht war hiermit die Auffassung verbunden, dass die literarischen Arbeiten Hölderlins ab dem Zeitpunkt seiner schizophrenen Erkrankung als „sinnfrei“ einzuordnen seien. Eine aus heutiger Sicht eher fragwürdige Aussage. Dieser Aussage widersprach bereits 1915 Norbert von Hellingrath, Herausgeber der ersten historisch-kritischen Ausgabe von Hölderlins Werken. Denn, so sein Argument, die geistigen Produkte eines „Geistesgestörten“ können (auch für Geistesgesunde) durchaus sinnausweisend sein.[12] Ähnlich äußerte sich auch Karl Jaspers mit seinem berühmt gewordenen Ausspruch: „ Es ist unfruchtbar, auf Hölderlin’sche Dichtungen grobe psychopathologische Kategorien anzuwenden.“ [13] Jedoch blieb Jaspers, wie die meisten Psychiater bis in die 80er Jahre hinein, in seiner Thematisierung Hölderlins doppeldeutig.[14] Brisanz gewann die Kontroverse mit der 1978 erschienenen Biographie von Pierre Bertaux. In ihr vertritt er die These, dass die Krankheit Hölderlins Ausdruck der ihm drohenden politischen Verfolgung gewesen sei, welche Hölderlin zum Spielen der Verrücktheit gewissermaßen gezwungen hätte.[15] Bertaux’s Biographie gewann auch vor dem Hintergrund der in den westlichen Gesellschaften sich abspielenden intensiven kritischen Auseinandersetzung mit der Institution „Psychiatrie“ Popularität. Denn sie transportierte Ansichten der Anti-Psychiatrie, obwohl Bertaux diese nicht explizit vertrat, und damit Hölderlin in die Mitte der kulturellen Debatten. Inwieweit die Nachricht vom Tod seiner Geliebten Susette Gontard 1802 eine Rolle gespielt hat, ist Gegenstand von Interpretationen.[16] Auch wenn Hölderlin sich – hierin anderen Menschen, die an einer schizophrenen Störung erkrankt sind, vergleichbar – allzu unliebsame Menschen vom Leib gehalten hat und unter der politischen Verfolgung seines Freundes Sinclair litt, geht die Leugnung einer schweren psychischen Erkrankung Hölderlins zu weit. Dies zeigt sich beispielhaft in den Nürtinger Pflegschaftsakten, welche eindrucksvolle Briefe von Erich und Lotte Zimmer enthalten. Sie wurden erst in den 90er Jahren von einem Angestellten beim Stadtarchiv Nürtingen entdeckt.[17]

2 Literatur

  • Pierre Bertaux: Friedrich Hölderlin. Eine Biographie. Insel Verlag, Frankfurt/M. 2000, ISBN 3-458-34352-0
  • Uwe Gonther, Jann E. Schlimme (Hrsg.): Hölderlin und die Psychiatrie. Schriften der Hölderlin-Gesellschaft Bd. 25. Psychiatrie-Verlag, Bonn 2010
  • D. E. Sattler: Friedrich Hölderlin. 144 fliegende Briefe. Luchterhand, Darmstadt 1981, ISBN 3-472-86531-8

3 Einzelnachweise

  1. Georg Popp (Hrsg): Die Großen der Liebe, Quell Verlag, Stuttgart 1989, Seite 167
  2. Jann E Schlimme, Uwe Gonther: Hölderlins Behandlung im Tübinger Klinikum. in: Uwe Gonther. Jann E. Schlimme (Hrsg.): Hölderlin und die Psychiatrie. Schriften der Hölderlin-Gesellschaft Bd. 25. Psychiatrie-Verlag, Bonn 2010: S. 51–110; hier S. 62 ff.
  3. Uwe Jens Wandel. 500 Jahre Eberhard-Karls-Universität Tübingen 1477–1977. Universitätsbibliothek Tübingen 1977, S. 175.
  4. Jann E Schlimme, Uwe Gonther: Hölderlins Behandlung im Tübinger Klinikum. S. 104 ff.
  5. Uwe Jens Wandel. 500 Jahre Eberhard-Karls-Universität Tübingen 1477–1977. Universitätsbibliothek Tübingen 1977, S. 175.
  6. Jann E Schlimme, Uwe Gonther: Hölderlins Behandlung im Tübinger Klinikum. S. 104 ff.
  7. https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_H%C3%B6lderlin#Zweite_Lebensh%C3%A4lfte_im_Turmzimmer_von_1807_bis_1843
  8. Uwe Gonther: Hölderlins „Wahnsinn“ als Teil der Rezeptionsgeschichte. Grundlagen der Kontroverse. S. 132–139.
  9. Klaus Schonauer: Hölderlins Echo. Psychiatrie, Sprachkritik und die Gangarten der Subjektivität. Münster 1993
  10. Klaus Schonauer. Germanistisch-psychiatrische Deutungsrivalität um Hölderlin in erster Instanz: Wilhelm Lange und Norbert von Hellingrath. In: Uwe Gonther. Jann E. Schlimme. Hölderlin und die Psychiatrie. Schriften der Hölderlin-Gesellschaft Bd 25. Psychiatrie-Verlag, Bonn 2010. S. 140–176, hier S. 157
  11. Wilhelm Lange: Hölderlin. Eine Pathographie. Stuttgart, Enke 1909.
  12. Klaus Schonauer: Germanistisch-psychiatrische Deutungsrivalität um Hölderlin in erster Instanz: Wilhelm Lange und Norbert von Hellingrath. In: Uwe Gonther. Jann E. Schlimme: Hölderlin und die Psychiatrie. Schriften der Hölderlin-Gesellschaft Bd 25. Psychiatrie-Verlag, Bonn 2010. S. 140–176, hier S. 151 f..
  13. Karl Jaspers: Strindberg und van Gogh. Versuch einer pathographischen Analyse unter vergleichender Heranziehung von Swedenborg und Hölderlin. Bern, Piper 1922. S. 128.
  14. Jann E Schlimme: Karl Jaspers. Pathographie zwischem „genetischem Verstehen“ und Existenzerhellung. In: Uwe Gonther, Jann E. Schlimme: Hölderlin und die Psychiatrie. Schriften der Hölderlin-Gesellschaft Bd 25. Psychiatrie-Verlag, Bonn 2010. S. 177–193. Siehe auch die Arbeiten von Uwe Henrik Peters: Hölderlin. Wider die These vom edlen Simulanten. Reinbek/Hamburg, Rowohlt 1982, und Helm Stierlin: Nietzsche, Hölderlin und das Verrückte. Heidelberg, Carl Auer 1992.
  15. Pierre Bertaux. Friedrich Hölderlin. Eine Biographie. Frankfurt/Main 1978.
  16. so von Pierre Bertaux und D. E. Sattler
  17. Gregor Wittkop: Hölderlin. Der Pflegsohn. Texte und Dokumente 1806–1843, mit den neu entdeckten Nürtinger Pflegschaftsakten. Stuttgart, Weimar 1993.

4 Andere Lexika

Wikipedia kennt dieses Lemma (Hölderlins Krankheit) vermutlich nicht.




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