Mahlstrom (Roman)
Mahlstrom ist ein deutschsprachiger Roman der Schweizer Schriftstellerin Yael Inokai aus dem Jahr 2017, der die Geschichte von sechs jungen Menschen erzählt, die als Kinder gemeinsam in einem ländlichen Dorf gross geworden sind. Nach einem Suizid arbeiten sie die schlimmen Geschehnisse auf, die elf Jahre zuvor in der Kindheit stattgefunden haben und die ihr Erwachsenenleben noch immer stark prägen. 2018 wurde der Roman mit einem der sieben Schweizer Literaturpreise ausgezeichnet, verbunden mit einer Dotierung von 25.000 Franken für die Autorin.[1] 2019 wurde der Roman vom SRF als Hörspiel adaptiert und im Januar 2020 gesendet.[2] Im Dezember 2020 wurde es vom Deutschlandfunk übernommen.[3]
Inhaltsverzeichnis
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1 Inhaltsangabe
Die Geschichte Mahlstrom handelt von den sechs Personen Barbara, Adam, Nora, Annemarie, Hans und Yann. Gemeinsam wuchsen sie in einem kleinen Dorf fern der Grossstadt auf. Im Alter von zweiundzwanzig Jahren ertränkt sich Barbara im nahen Fluss. Sie füllt dazu Steine in den Wollmantel und lässt sich in einen Strudel ziehen. Erst sieben Tage später wird ihr Körper am Ufer des Flusses gefunden. Der tragische Selbstmord veranlasst die verbleibenden Freunde, ein schweres Verbrechen aufzuarbeiten, das sie in der Kindheit begangen haben.
Yann zog als Neunjähriger mit seinen Eltern ins Dorf. Trotz grosser Bemühungen fand er anfänglich kaum Anschluss unter den Gleichaltrigen. Nach und nach kam er jedoch in Kontakt mit den anderen Kindern und konnte sogar einzelne nähere Beziehungen aufbauen. Die Rolle des Aussenseiters verlor er aber nie. Eines Tages wurde Yann Opfer eines Gewaltverbrechens, verübt durch seine eigene Clique. Er überlebte nur knapp und trug physische und psychische Schäden davon. Die Grausamkeiten wurden totgeschwiegen. So wurde keiner zur Rechenschaft gezogen und das Leben der Dorfbewohner änderte sich kaum. Erst nach dem Tod von Barbara wird das Schweigen gebrochen. Die jungen Erwachsenen stellen sich endlich ihrer Vergangenheit.
2 Figuren
Barbara: Die Geschichte dreht sich um Barbara, eine kluge und selbständige junge Frau, die jedoch an einer psychischen Beeinträchtigung leidet. Sie wird von ihrem Vater geschlagen, von der Dorfgemeinschaft in ihrer Art nicht verstanden und als stur und verschlossen abgestempelt. Barbara hat ihren eigenen Kopf. Das erträgt nicht jeder, deshalb wird hinter ihrem Rücken auch über sie gelästert. Barbara spricht nicht viel und ist gerne mutterseelenallein in ihrem ‘Gedankenkarussell’. Sie sucht mit Vorliebe ihre wenigen Zufluchtsorte auf: das Haus am Bach, ihr kleines Zimmer im dritten Stock oder das Gasthaus Specht. Seit Kindheit sind ihr Bruder Adam, ihre Freundin Nora und ihre Tante Astrid die einzigen Bezugspersonen. Als Kind ist Barbara dennoch Teil einer Kinderbande. Sie wird trotz oder wegen ihrer Andersartigkeit respektiert. Barbara ist ein naturverbundener Mensch, sie begreift die Welt mit all ihren Sinnen. Als eine der wenigen Dorfbewohner weiss sie von der Homosexualität ihres Bruders. Im Alter von zweiundzwanzig Jahren ertränkt sich Barbara im Fluss. Sie hinterlässt ihrem Bruder einen kurzen Abschiedsbrief, indem sie sich entschuldigt. Doch wofür? Für ihren bevorstehenden Selbstmord oder für die schlimme Tat, die hinter ihr liegt?
Adam: Adam ist der jüngerer Bruder von Barbara. Als einziger der Familie steht er für seine Schwester ein und versucht, ihr Wesen zu verstehen. Vor der Gewalt des Vaters kann er seine Schwester jedoch nicht beschützen. Während der Pubertät sucht Adam regelmässig – jedoch ohne Wissen seiner Freunde – den Kontakt zu Yann. Im Haus am Bach findet eine erste konkrete Annäherung statt. Stark verunsichert beendet Adam kurze Zeit später seine erste Beziehung. Er schenkt Yann aber als Andenken eine Kette mit einem Knopf daran. Adam entwickelt sich von einem schlaksigen Teenager zu einem stolzen jungen Mann, der als Erwachsener gerne als «Herr Adam» angesprochen werden möchte. Adams Jugendjahre sind geprägt vom persönlichen Kampf, sich endlich zu seiner sexuellen Identität zu bekennen. Dies gelingt ihm erst als Erwachsener, ganz am Ende des Romans.
Nora: Nora bezeichnet sich in den Jugendjahren selbst als einzige Freundin von Barbara. Die beiden jungen Frauen besuchen nach der obligatorischen Schule noch gemeinsam für einige Zeit die Handelsschule. Eine Freundschaft im ‘klassischen’ Sinn lässt sich nur schwer erkennen. Bis ins Erwachsenenalter sehen sich die beiden unregelmässig im Gasthaus Specht und es ergibt sich auch das eine oder andere Gespräch. Auf Wunsch von Barbara geben sich Nora und Adam später als Liebespaar aus, um dessen Homosexualität zu vertuschen. Einen engeren Kontakt kann Nora im Laufe der Zeit zu Yann aufbauen. Ihre Liebe zu Hunden verbindet die beiden. Ihr eigener Hund Domenico stirbt an einem Schlangenbiss. In schwierigen Zeiten – wenn ‘schwarzer Schnee’ fällt – sorgt Nora fortan für Yanns Hündin Stella.
Annemarie: Die Schwester von Hans wird über den ganzen Roman hinweg als unscheinbare Person mit dünner und piepsiger Stimme beschrieben. Weder als Kind noch als junge Erwachsene gelingt es ihr, sich durchzusetzen. Sie wirkt wie eine graue Maus. Sie erhält zu keiner Zeit die Aufmerksamkeit, die sie sich eigentlich wünscht. Als Kind steht sie jeweils am Rande der Gruppe und wird nur als Helferin geduldet. Während der Schulzeit ist Yann der Einzige, der sich Annemarie überhaupt kurz zuwendet. Dies aber auch nur, weil Yann als Neuzuzüger und Aussenseiter ein Leidensgenosse darstellt. Annemarie verliebt sich in der Schule in Yann. Als Erwachsene fügt sich Annemarie ohne Widerstand ins System ein. Sie heiratet früh und wird Friedhofsgärtnerin. Für die Dorfgemeinschaft gilt sie als langweilige und uninteressante Gesprächspartnerin. Sie ist und bleibt das Mädchen, das man die ganze Zeit übersieht.
Hans: Hans wird im Roman als umgänglich und tatkräftig beschrieben. Als Kind muss er sich in der Grossfamilie gegenüber seinen zwölf Geschwistern durchsetzen. Im Elternhaus gibt es für die Kinder weder Privatsphäre noch Privilegien. Der wichtigste Besitz von Hans sind seine drei Langspielplatten, die er immer wieder hört. Hans ist musikalisch und spielt Klavier. Eines Tages bastelt er sogar aus Papierbögen ein Piano für seine Jugendfreundin Nora, um auch sie für die Musik zu begeistern. Als Ältester der damaligen Clique verschwindet Hans plötzlich und zieht in eine nicht näher benannte Grossstadt. Seit seinem überraschenden Wegzug vor einigen Jahren hat keiner mehr Kontakt zu ihm. Auch zur Beerdigung von Barbara erscheint Hans nicht im Dorf. Wegen seiner besonnenen Art scheint es auch Jahre nach der Tat umso erstaunlicher, dass selbst Hans nicht vor Gewalt zurückgeschreckt ist. Perplex von seiner eigenen Kraft soll er selbst nicht erklären können, was ihn zu dieser Grausamkeit in jungen Jahren veranlasst hat.
Yann: Yann zieht im Alter von neun Jahren mit seiner Familie ins Dorf. Er ist klein, zierlich und spricht einen fremden Dialekt. Deshalb wird er schnell Opfer der täglichen Gemeinheiten der Kinder. Als Aussenseiter mag er seine Mitschülerin Annemarie vom ersten Augenblick an, da auch diese schlecht integriert ist. Yann wird als sehr kommunikativer Junge beschrieben, der versucht, sich mit allerlei fantastischen Geschichten in den Mittelpunkt zu stellen. In den Ohren der Dorfkinder spricht er oft ‘Yannisch’. Er verbringt seine Freizeit alleine mit seinem Hund Levin oder mit seiner Familie am grossen Tisch draussen im Garten. Yann ist gleich alt wie die Nachbarstochter Nora. Diese sucht einerseits seine Bekanntschaft, lockt ihn andererseits aber in einen Hinterhalt, bei dem Yann fast sein Leben verliert. Physisch und psychisch gezeichnet lebt Yann weiterhin im Dorf. Immer wieder wird er von Depressionen und körperlichen Beschwerden geplagt. In seiner Sprache fällt dann ‘schwarzer Schnee’. Selbstironisch spricht er auch vom ‘Wackelkontakt’ in seinem Körper. Bis ins Erwachsenenalter verbessert sich das Verhältnis zu Nora, die in gesundheitlich schwierigen Zeiten auf seine zweite Hündin Stella aufpasst.
3 Erzählperspektive
Drei der sechs Personen ergreifen abwechslungsweise das Wort. Nora, Adam und Yann erzählen als junge Erwachsene die Geschichte aus ihrer ganz persönlichen Sicht. Die drei schauen zurück auf ihre Kindheit. Erinnerungen an frühere Zeiten und gegenwärtige Begegnungen lassen nach und nach erahnen, was vor vielen Jahren in diesem abgelegenen Dorf passiert ist. Erst in der Mitte des Buches wird das schlimme Verbrechen erstmals benannt. Einige Erzählepisoden überlappen sich inhaltlich, da die gleichen Begebenheiten jeweils aus verschiedenen Blickwinkeln geschildert werden. Andere Geschichtsfetzen setzen sich wie Puzzleteile zusammen und ergeben erst in ihrer Gesamtheit Sinn. Nora, Adam und Yann erzählen sowohl über sich selbst, wie auch über die anderen Figuren. Barbara, Hans und Annemarie kommen nicht selbst zu Wort.
Die Autorin spielt mit der Sprache, indem sie viele Symbole und Metaphern verwendet. Auch erzeugt sie durch geschicktes Platzieren von Andeutungen eine ansteigende Spannung. Die Charaktere der Figuren stechen sprachlich heraus, jede Figur wirkt auf ihre Weise: Nora spricht frisch und detailreich, Adams Sprache ist direkt und sachlich. Yanns Stimme ist unsicher und vorsichtig.
4 Symbole
Mahlstrom: Der Mahlstrom ist ein Gezeitenstrom zwischen den Lofoten-Inseln Moskenesøy und Værøy in Norwegen. Charakteristisch für den Strom sind starke Wasserwirbel. Bereits der Buchtitel weist auf den Wasserstrudel hin, der für den Tod von Barbara verantwortlich ist. Als Symbol steht er aber auch für den Sog, dem die Dorfbewohner nach dem Suizid ausgesetzt sind. Die jungen Erwachsenen befinden sich in einem Strudel der Erinnerungen, der sie immer tiefer in die Vergangenheit zieht und kaum mehr frei lässt.
Knopf: Ein Knopf dient dazu, zwei einzelne Teile aneinanderzubinden. Als Symbol schenkt Adam Yann einen schimmernden Perlmuttknopf an einer Kette. Ein Zeichen seiner Verbundenheit und ein Andenken an die erste Annäherung der beiden im Haus am Bach. Im Laufe der Zeit kommt ein weiterer Knopf dazu. Ein unscheinbarer Beweis für die wachsende Liebesbeziehung. Diese beiden Knöpfe lösen in Adam schlussendlich den Entschluss aus, öffentlich zu seiner Homosexualität zu stehen (S. 148).
Hunde: Hunde gelten gemeinhin als treue Begleiter der Menschen. Sie spielen im Roman dann auch eine wichtige Rolle. Insbesondere Yann baut zu seinem ersten Hund Levin eine tiefe Beziehung auf. Der Vierbeiner lenkt Yann von seiner Einsamkeit ab. Die Abhängigkeit zwischen Mensch und Tier zeigt sich in tragischer Weise, als der unschuldige Hund für die schlimme Tat verantwortlich gemacht und erschossen wird. So wird Yann seiner letzten Freundschaft beraubt (S. 92). Aus Scham und Reue schenken ihm Hans und Nora später einen kleinen Welpen namens Stella. Eine symbolische Geste, bei der dann doch – zwischen der ganzen Trostlosigkeit – auch Menschlichkeit durchscheint.
Steine: Mehrere Textstellen im Roman beziehen sich auf Steine: Barbara legt sich für ihren Suizid Steine in den Mantel (S. 21); Es formt sich ein Stein in Yanns Magen, der ihn zu Boden zieht (S. 67); Yann hebt am Bach Steine auf und schleudert diese mit einem lauten Schrei davon (S. 155); Yann wird genötigt, den Steinboden des Pausenhofs abzulecken (S. 107); Adam wirft kleine Steinchen ans Fenster (S. 109). Steine sind im Roman die lautlosen Zeugen. Sie symbolisieren die Schwere der Thematik, die Härte der Geschehnisse und die Strenge der Kinder. Sie gelten aber auch als Helfer: Barbara nutzt die Steine für ihren Selbstmord. Yann braucht die Steine, um sich seiner Sorgen zu entledigen. Adam nutzt die Kieselsteine zur Kontaktaufnahme.
Haus am Bach: Tante Astrid lebt, von den Erwachsenen ausgegrenzt, in einem kleinen Haus am Bach. Mit ihr und diesem Ort verbinden die Dorfkinder Fröhlichkeit, Lebendigkeit und ungestüme Erlebnisse. Ähnlich wie das unaufhörliche, beruhigende Plätschern des Wassers bleibt das Haus am Bach auch nach dem Wegzug von Tante Astrid ein konstanter und vertrauter Rückzugsort. Barbara und Adam kehren immer wieder dorthin zurück. Adam und Yann kommen sich an diesem Ort ein erstes Mal näher (S. 110).
Tisch: Am Tisch wird gegessen, gearbeitet, gespielt und diskutiert. Der Tisch steht kurzum für das lebendige Miteinander. Nora staunt über das rege Treiben in Yanns Garten. Der Tisch symbolisiert eine Oase mitten im trockenen, oberflächlichen Dorf. Man spürt die Verbundenheit der Familie, die Fürsorge und Freude. In der Familie von Yann ist manches anders. Nicht nur, weil sie aus der fernen Grossstadt zugezogen ist, sondern auch, weil sie komplett andere Werte lebt. Der Tisch als schweres Möbelstück stellt den Mittelpunkt im Garten dar (S. 77ff). Er gibt Yann Geborgenheit, Sicherheit und symbolisiert Beständigkeit in seinem neuen Alltag.
5 Metaphern
‘Schwarzer Schnee’: Durch die Schlägerei vor vielen Jahren im Schnee erleidet Yann ein Trauma. ‘Schwarzer Schnee’ ist die Metapher für den traurigen, lähmenden Zustand, in den Yann seit dann immer mal wieder gerät (S. 119). ‘Schwarzer Schnee’ meint also die Depressionen, unter denen das Opfer bis in die Gegenwart hinein leidet. Gemäss Yann spült meist der Regen den schwarzen Schnee fort. Regen beruhigt. «Regen gibt der Welt die Konturen zurück (S. 166).»
‘Gedankenkarussell’: Barbara ist psychisch beeinträchtigt und hat darum Mühe, ihre Eindrücke und Sinneswahrnehmungen zu verarbeiten. Jedes Wort und jeder Blick haben Gewicht für sie. Gemäss Adam nimmt sie ihre Welt ‘ohne Filter’ wahr (S. 121). Sie setzt in ihren Gedanken keine Prioritäten. Sinnbildlich drehen sich Barbaras Gedanken ununterbrochen im Kreis. Sie braucht deshalb umso mehr Zeit für sich. Zeit, um ihre Gedanken zu ordnen und zu verstehen. «Sie ist deshalb gerne mutterseelenallein mit ihrem Gedankenkarussell (S. 122).»
Yann hat einen ‘Wackelkontakt’: Das sagt er selbst von sich. Wenn er lange genug warte, springe er wieder an. Yann nimmt dabei Bezug auf seine physischen und psychischen Beschwerden, die ihn seit der Tat begleiten. Manchmal funktioniert sein Körper, manchmal aber auch nicht. Selbstironisch spricht er dann vom Wackelkontakt (S. 131).
Adams ‘Schaltzentrale’ gerät ausser Betrieb: Männer zeigen keine Emotionen. Das wird ihm so beigebracht. Dass dies bei ihm nicht immer klappt, beschämt Adam. Manchmal überwältigen ihn nämlich seine Gefühle. Dann zittert er und weint und verliert die Kontrolle über seinen Körper. Das passiert ihm beispielsweise bei der Beerdigung von Barbara (S. 30), im Haus am Bach (S. 110), oder eben auch nach seinem Geständnis im Gasthaus (S. 177). Adam spricht dann sinnbildlich von seiner ‘Schaltzentrale’, die nicht mehr richtig funktioniert.
Yann spricht ‘Yannisch’: Yann zieht mit seinem fremdklingenden Dialekt das Gelächter der Dorfkinder auf sich. Und dennoch möchte er erzählen. Er nutzt jede Gelegenheit und spult die Geschichten seines Lebens ab. «Yann kann lügen wie ein Weltmeister (S. 91).» Bei fehlender Aufmerksamkeit der Zuhörer verdoppelt er sogar sein Sprechtempo. Yann kann hoffnungslos übertreiben, unnötig sentimentale Episoden erzählen oder grässlich eklige Szenen schildern. Für die Dorfkinder spricht er dann ‘Yannisch’ (S. 83). Ein Ausdruck also, der spezifisch auf Yanns Sprechverhalten abzielt.
6 Interpretation
In der kleinen Dorfgemeinschaft begegnet man sich zwar höflich, die wirklichen Probleme werden jedoch nicht angesprochen. Man schaut lieber weg und mischt sich nicht in fremde Angelegenheiten ein. Jeder hat seinen Platz in der Gesellschaft und steht doch auf seine Weise alleine da. Die Kinder werden grundsätzlich sich selbst überlassen. Sie ziehen in Gruppen herum und verbringen die meiste Zeit draussen in der Natur. Eltern und Lehrer fordern, befehlen, verbieten und strafen. Die Kinder geben die Gewalt, die sie von den Erwachsenen erfahren, untereinander weiter. Sie kennen nichts anderes. Die Dorfbewohner sind extrem intolerant. Ausgegrenzt wird jeder, der nur ein wenig aus der Norm fällt: Wie eben der homosexuelle Yann oder die psychisch beeinträchtigte Barbara.
Das ganze Drama nimmt seinen Lauf, nachdem die Kinder in die Pubertät kommen. Yann meint selbst, dass plötzlich alle zu spinnen beginnen und die Selbstkontrolle verlieren. Die Jugendlichen versuchen in erster Linie aber nur mit ihren Bedürfnissen klarzukommen. Die vielen ungeschriebenen Gesetze machen es ihnen schwer, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Die Geschichte handelt von Gemeinschaft und Ausgrenzung, von Freundschaft und Verrat aber auch von Schuld und Wiedergutmachung. Die Autorin blickt gnadenlos hinter die Fassade dieser dörflichen Gemeinschaft. Somit tritt die Frage nach den Gründen von Barbaras Selbstmord relativ bald in den Hintergrund. In den Vordergrund rückt die Art und Weise, wie die jungen Leute ihre Vergangenheit aufarbeiten.
Yael Inokai spricht mit ihrem Roman Mahlstrom aktuelle gesellschaftliche Problematiken an: Es geht um die Frage der Verantwortung der Erwachsenen gegenüber den jüngeren Generationen. Auch spricht die Autorin die Diskriminierung von Minderheiten und die Gruppendynamik unter jungen Menschen an. Yael Inokai nimmt dazu keine Stellung. Sie lässt es der Leserschaft offen, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen. Barbaras Worte aus dem Abschiedsbrief klingen jedenfalls nach: «Es wäre wohl mehr möglich gewesen (S. 161)» — ja, das wäre es wohl.
7 Rezeption
„Mahlstrom verbindet Präzision mit Poesie. Es ist der zweite Roman der 28-jährigen Autorin. Schon in ihrem Debut Storchenbiss (unter dem Namen Yael Pieren) hat sie von den Auswirkungen traumatischer Erfahrungen erzählt. Doch nun ist die Sprache prägnanter und kantiger geworden, die verschiedenen Erzählstimmen sind souverän komponiert.“
„Vom Erzählen erzählen: Yael Inokais zweiter Roman, «Mahlstrom», nimmt einen Selbstmord zum Anlass, um darüber nachzudenken, wer sprechen darf und wessen Geschichte wem gehört.“
– Nadia Brügger: WOZ Die Wochenzeitung Feuilleton, 2018[5]
„Mahlstrom (…) ist ein stimmiges Bild für das, was den jungen Menschen widerfährt: Sie sind gefangen in ihrer Schuld, verfangen, in dem, was sie aneinander kettet, sie kommen nicht los von den Erinnerungen an ihre gemeinsame Tat.“
– Corina Lanfranchi: Programm Zeitung Basel, 2018[6]
„Wie aus der Sprachlosigkeit ein verwundertes Betrachten, ein schamvolles distanziertes Erinnern (…) entstehen – dieser sorgfältig komponierte, anschwellende Redefluss entwickelt einen unwiderstehlichen Sog.“
– Ruth Gantert: viceversa literatur.ch, 2017[7]
„Mit Mahlstrom gelingt ihr ein dichter Roman in bildhafter, klarer Sprache. Jeder der drei erzählenden Figuren verleiht sie eine eigene Sprache, einen eigenen Tonfall und kreiert daraus eine vielschichtige Kindheits- und Jugendgeschichte.“
– Babina Cathomen: kulturtipp, 2017[8]
„Ein Text aus Wasser: Yael Inokais Mahlstrom lässt eine Figur im Strudel des Erzählens ertrinken. Am Ende steht ein grosser Roman über die subtile Gewalt der Dörfer.“
– Laura Clavadetscher: Buchjahr-Blog, 2017[9]
„In kurzen, knappen Sätzen führt [Yael Inokai] direkt in ihre Welt ein. Mit einem ganz einzigartigen Blick auf das Geschehen lässt sie genau in die Dorfwelt und das Leben der einzelnen Bewohner eintauchen.“
– Susanne Schön: Südkurier, 2018[10]
„Mahlstrom entwickelt einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Yael Inokai hat dafür eine eigene Stimme gefunden, die mit sehr sinnlichen und gleichzeitig unkonventionellen Beschreibungen und Vergleichen aufwartet. Eine Entdeckung!“
– Britta Spichiger: SRF Literatur, 2021[11]
8 Ausgaben
- Yael Inokai: Mahlstrom, Roman. Rotpunktverlag, Zürich 2017, ISBN 978-3-85869-760-8
9 Weblinks
- Rezensionen von „Mahlstrom“ bei perlentaucher.de
- Yael Inokai auf literaturport.de
10 Vergleich zu Wikipedia
11 Einzelnachweise
- ↑ Daniel Faulhaber: Das Literaturinstitut Biel lässt diese Basler Autorin kalt, tageswoche.ch, 25. April 2018
- ↑ «Mahlstrom» von Yael Inokai. In: srf.ch. 2020-01-11. Abgerufen am 15. Juli 2021.
- ↑ Hörspiel über ein totgeschwiegenes Verbrechen. Mahlstrom, deutschlandfunkkultur.de, 2. Dezember 2020
- ↑ NZZ Feuilleton. Martina Läubli. Erschreckend schnell kippt das Spiel in Gewalt. 27.Oktober 2017
- ↑ WOZ Die Wochenzeitung Nr. 18/2018, Nadia Brügger Yael Inokai: Kein Haus, um darin gross zu werden, 3. Mai 2018
- ↑ ProgrammZeitung Basel. Corina Lanfranchi. In einer kalten Winternacht. Ausgabe Februar 2018
- ↑ viceversa literatur.ch. Ruth Gantert. Die Stimme setzt den Körper zusammen. 20. November 2017
- ↑ Kulturtipp. Babina Cathomen. Die Macht der Erinnerung. 23. November.2017
- ↑ Buchjahr-Blog. Laura Clavadetscher. Von einer, die unterging. 6. November 2017
- ↑ Südkurier. Susanne Schön. Erzählzeit-Lesung in der Schulmensa. 18. April 2018
- ↑ Ansichten.SRF.ch. Britta Spichiger. Autorenportrait Yael Inokai. Zuletzt abgerufen am 5. April 2021
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