Korrespondenzmelodik und Prosamelodik

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Korrespondenzmelodik und Prosamelodik sind musikwissenschaftliche Begriffe zur Abgrenzung der Merkamle vokaler Musik des Mittelalters und der Renaissance von der von 1700 bis zur Spätromantik vorherrschenden "Klassischen Musik".

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1 Begriffsbildung

  • Der Begriffe wurden ab 1953 von dem Musikwissenschaftler Heinrich Besseler entwickelt.
  • Erstmalig verwendete er sie in seinem Aufsatz Singstil und Instrumentalstil in der europäischen Musik, erschienen im Bericht über den Internationalen Kongreß Bamberg im Jahr 1953. Auch in seiner Arbeit Bourdon und Fauxbourdon aus dem Jahr 1960 stellte er den Gegensatz zwischen Prosamelodik und Korrespondenzmelodik dar.
  • Seitdem wurden die beiden Begriffe von vielen Musikwissenschaftlern aufgegriffen und verwandt, aber auch kritisch diskutiert.

2 Korrespondenzmelodik

  • Unter Korrespondenzmelodik versteht Besseler eine Musik, die durch korrespondierende Melodien bzw. Taktstrukturen gekennzeichnet ist. Besseler schreibt dazu u.a.:
"Versucht man, den Gegenpol der Prosa begrifflich zu umschreiben, so gelangt man zum regelhaft geordneten, im weitesten Sinne Gebundenen, also zum ‚Poetischen’ in der Musik. Hier ist eine Wiederkehr des Gleichen oder Ähnlichen möglich. Hier gibt es >Glieder<, die man erfaßt und wiedererkennt. Sie können aus einem Einzelton oder aus einer Tongruppe bestehen, auch aus einem Rhythmus. Wesentlich ist nur, daß ein solches glied, ganz allgemein gesagt, eine Beziehung zu anderen Gliedern hat. Man beobachtet also das Grundverhältnis einer >>Korrespondenz<< von kleinsten Teilen. Die so umschriebene Beziehungsmelodik oder Korrespondenzmelodik, aus Gliedern aufgebaut, ist wohl der Gegensatz zur Prosamelodik. Besteht ein Glied aus einer Tongruppe, so kann es unmittelbar nacheinander mehrmals wiederholt werden, als ostinater Baß oder als Begleitfigur. Zu größerer Freiheit führen rhythmische Wiederkehr einer Gruppe, sodann Periodenbau mit korrespondierenden Gliedern, schließlich Themenbildung und thematische Arbeit." [1]
  • In der Renaissance hatte die Korrespondenzmelodik nach Besseler ihren zentralen Geltungsbereich in der Tanzmusik, die Prosamelodik hingegen in der Vokalmusik. Seit dem 17. Jahrhundert griff sie dann über die Tanzmusik hinaus, und wurde seit Mitte des 18. Jahrhunderts konstitutiv für jegliche musikalische Komposition. Mit der Spätromantik, dem Impressionismus und spätestens der Musik des 20. Jahrhunderts verliert das Prinzip der Korrespondenzmelodik dann zunehmend seine Dominanz.
  • Das Prinzip der Korrespondenzmelodik bezeichnet Besseler auch als "poetisch", da sie wie ein Gedicht in metrische Schemata gezwängt ist.
  • Auf das Musikhören nach den Prizipien der Korrespondenzmelodik ist der heutige Hörer durch jahrhundertelange Übung trainiert. Dies Hören erfordert kein lineares, sondern ein synthetische Hören. Dies ist notwendigerweise auch ein "Zurückhören", dass man setzt beim Hören einer Komposition das vorher gehörte in Beziehung zu dem aktuell Gehörten.
  • Die Teile einer Melodie haben meist den Charakter von Frage und Antwort und sind metrisch meist in geradzahligen Taktgruppen organisiert. Ausgehend davon bilden sich ähnliche, größere Formen wie z.B. Liedformen, Rondoformen und schließlich sogar die Form ganzer Sätze, wie z.B. die Sonatenhauptsatzform. [2] [3]

3 Prosamelodik

  • Die Prosamelodik ist an die metrisch freiere Form der Prosa angelehnt. In größeren Bögen entfalt sie sich recht frei, d.h. sie ist nicht einer geregelten, korrespondierenden Taktstruktur untergeordnet, wie es seit je für Tanz und Volkslied typisch ist.
  • Besseler sieht hier das verbindende Glied zwischen Gregorianik und Polyphonie. In Hinblick auf die mehrstimmige Musik der Renaissance spricht er von einem "polyphonen Klangstrom". Das ergibt eine Musik, die sich linear in der Zeit auf möglichst unterschiedliche Weise entfaltet. Die Melodien sind dabei in der Intervallstruktur immer sangbar gestaltet. Besseler schreibt dazu u.a.:
"Eine solche Melodik entspricht der Forderung, die Johannes Tinctoris 1477 an mehrstimmige Musik stellt: >in omni contrapuncto varietas accuratissime exquirenda<. Unter >varietas< oder >diversitas< versteht er >Mannigfaltigkeit< jeder Art, nicht nur in Melodie und Rhythmus, sondern auch im Gesamtaufbau von Meßzyklen, Motetten und Chansons. Hier wird ein Prinzip umbeschrieben, das unserer neuzeitlichen Begriffswelt fernliegt. Vielleicht ist es ratsam, das Wort varietas für die grundsätzliche Gestaltungsfreiheit im Niederländischen Zeitalter (15. und 16. Jahrhundert) zu verwenden. Es bedeutet >freien Wechsel< in Rhythmus, Melodik, Mehrstimmigkeit und Formaufbau." [4]
  • Musik nach dem Prinzip der Prosamelodik erfordert vom heutigen Hörer ein Umdenken bzw. "Umhören". Gefordert ist ein lineares Hören, bei dem man nicht wie beim synthetischen Hören die vorausgehenden Klänge mit den aktuell hörbaren Klängen in Verbindung setzen und analysieren muss. [5]

4 Kritik und Verwendung

  • Carl Dalhaus erforschte ab 1964 den Begriff "musikalische Prosa" in seiner begriffsgeschichtlichen Tragweite. Dabei begreift er die kompositionsgeschichtliche Entwicklung der musikalischen Prosa vor allem als dialektischen Prozeß der Prosaisierung der regulären Periodizität. [6]
  • Hermann Danuser kritisierte eine gewisse Überdehnung und daraus folgend Bedeutungsleere des Begriffs. Er schreibt u.a.:
"Der weitreichende Anspruch von Besselers Begriff der "mus. Prosa" birgt allerdings, dies machen die sehr verschiedenen Beispiele deutlich, die Gefahr definitorischer Leerheit: über die negative Tatsache hinaus, daß in ihnen die Prinzipien der Korrespondenzmelodik zurückgedrängt oder bedeutungslos sind, besitzen sie kaum mus. Gemeinsamkeiten." [7]
  • Es wird auch auf einige Beispiele aus der vokalen Musik der Renaissance verwiesen, welche eher den Kriterien der Korrespondenzmelodik als denen der Prosamelodik entsprechen. Umgekehrt ist im Rahmen der Entwicklung der Symphonik im 19. Jahrhundert ein verstärktes Vordringen der Prosamelodik feststellbar.
  • Helga Lühning kritisiert den Begriff Prosamelodik u.a. folgendermaßen:
"Während der Ausdruck "Stimmstrom" im Blick auf die Tendenz zur Engschrittigkeit und das Fehlen starker rhythmischer Kontraste in der von Besseler gemeinten Musik gerechtfertigt erscheint, ist es mißverständlich, wenn nicht irreführend, von "Prosamelodik" zu sprechen, da es zur Definition von sprachlicher Prosa gehört, daß es kein präexistentes rhythmisches Koordinatensystem gibt." [8]

5 Siehe auch

5.1 Einzelnachweise

  1. Heinrich Besseler: Singstil und Instrumentalsitl in der europäischen Musik; in: Bericht über den Internationalen musikwissenschaftlichen Kongress Bamberg, 1953, S. 230 und 231
  2. Bernhard Mosbach: Die Musikwelt der Renaissance, Bärenreiter, 2006, S. 21 und 22
  3. Hermann Danuser: Musikalische Prosa; in Hans Heinrich Eggebrecht (Hrsg.): Terminologie der Musik im 20. Jahrhundert, Verlag Steiner, Stuttgart, 1995, S. 268
  4. Heinrich Besseler: Singstil und Instrumentalsitl in der europäischen Musik; in: Bericht über den Internationalen musikwissenschaftlichen Kongress Bamberg, 1953, S. 230 und 227
  5. Bernhard Mosbach: Die Musikwelt der Renaissance, Bärenreiter, 2006, S. 21 und 22
  6. Hermann Danuser: Musikalische Prosa, Berlin, 1978
  7. Hermann Danuser: Musikalische Prosa; in Hans Heinrich Eggebrecht (Hrsg.): Terminologie der Musik im 20. Jahrhundert, Verlag Steiner, Stuttgart, 1995, S. 268
  8. von Helga Lühning: Musikedition - Mittler zwischen Wissenschaft und musikalischer Praxis, Max Niemeyer Verlag, Tübingen, 2002, S. 266
  9. Im Artikel Symmetrie in Riemanns Musiklexikon
  10. In seinem Buch Urbanität als Aufklärung - Karl Wilhelm Ramler und die Kultur des 18. Jahrhunderts auf Seite 210
  11. In seinem Buch Von Mozart vor und zurück - Modelle zur Musik zwischen 1500 und 2000 auf Seite 193
  12. In seinem Buch Beethovens Klaviersonaten - Ein musikalischer Werkführer auf Seite 25

6 Andere Lexika

Wikipedia kennt dieses Lemma (Korrespondenzmelodik und Prosamelodik) vermutlich nicht.




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