Das Lichtspiel. Eine psychologische Untersuchung von Hugo Münsterberg

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Das Lichtspiel. Eine Psychologische Untersuchung (engl. „The Photoplay. A Psychological Study“) ist ein filmtheoretisches Werk von Hugo Münsterberg aus dem Jahr 1916, in dem durch die Anlehnung an die etablierte Wahrnehmungspsychologie und den Anschluss an neokantianische Ästhetik ein der ersten Versuche unternommen wurde, den Kunststatus des Films akademisch zu begründen.

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1 Ausgangssituation, Motivation und das Vorhaben

Der Film als ein neues Medium war in seiner Anfangszeit unter Intellektuellen und Akademiker nicht besonders populär und seine kulturelle Leistung wurde in der Regel auf die mechanische und damit prinzipiell angenommene nicht-künstlerische Reproduzierbarkeit der Realität reduziert. Als Münsterberg 1914 den Film „Neptune’s Daughter“ gesehen hat, wurde seine Faszination für dieses Medium auf Anhieb geboren, und in folgenden zwei Jahre investierte er in „The Photoplay. A psychological study“, all die akademische Mühe und Gründlichkeit, um den Kunststatus dieses neuen Mediums zu begründen.

Erstens möchte Münsterberg zeigen, dass der Film - trotz seiner angeblichen reinen mechanischen Reproduzierbarkeit - jedoch imstande ist, kreativ zu rekonstruieren als lediglich nur zu repräsentieren. Zweitens möchte er plausibel machen, dass die filmische Art und Weise, die Realität zu rekonstruieren bzw. zu transformieren sich im Wesentlichen von der Art und Weise unterscheidet, wie im [Theater] gang und gäbe ist. Und drittens möchte Münsterberg verdeutlichen, inwieweit der Film nach der Klarstellung der ersten zwei Punkte einen würdigen Platz im Reich der [Kunst] beanspruchen kann und soll. Die ersten zwei Punkte werden in der [Psychologie] (Part 1), der dritte Punkt in der [Ästhetik] des Films (Part 2) beantwortet, wobei in der Einleitung die technischen und soziologisch-historischen Geschichtspunkte des Films als Mediums besprochen werden.

2 Einleitung: Innere und äußere Entwicklungen des Films

Bei seiner Unterteilung der Filmgeschichte in äußere und innere Entwicklungen wollte Münsterberg erstens aufzeigen, welche technologische Voraussetzungen (äußere Entwicklung) erfüllt werden müssten, um Film als Medium möglich zu machen. Zweitens, sollte die Darstellung der inneren Entwicklung des Films zeigen, welche gesellschaftlichen bzw. soziologischen Faktoren den anfangs „primitiven“ Film dazu getrieben haben, sich in eine Form zu entwickeln, die nur noch wenig mit dem frühen Film etwas gemeinsam hat, insbesondere bezüglich der narrativen Dimension. So ist nach Münsterberg unsere immanente Sehnsucht nach Information, Bildung und Unterhaltung derjenige wesentliche Faktor, der die Existenz und die Fortentwicklung des Films überhaupt ermöglicht hat. Auch wenn die technologischen Voraussetzungen vollständig erfüllt wären, wäre der Film immer noch nicht zu einem Massenmedium erstiegen, hätten wir das Bedürfnis nicht gehabt, durch dieses Medium informiert, gebildet oder unterhalten zu werden: eine soziologisch-kulturanthropologische These. Und bereits hier macht Münsterberg klar, was genau der Gegenstand seiner Theorie sein soll: Nach ihm sind die dokumentarischen Filme zwar zu Bildungszwecken vollkommen geeignet: allerdings erreicht der Film seinen Kunstanspruch erst durch die narrative Form, dessen filmspezifische Darstellung den Film endgültig vom Theater ablösen soll.“Yet that power of the moving pictures to supplement the school room and the newspaper and the library by spreading information and knowledge is, after all, secondary to their general task, to bring entertainment and amusement to the masses“ Und etwas später heißt es: „The art of the photoplay has developed so many new features of its own, features which have not even any similarity to the technique of the stage that the question arises: is it not really a new art which long since left behind the mere film reproduction of the theater and which ought to be acknowledged in its own esthetic independence?“

3 Part 1: Die Psychologie des Films

Münsterbergs Argumente aus der Psychologie des Films sind eindeutig formuliert: das genuine filmspezifische Potenzial ist im Bereich des Mentalen angesiedelt. Zu dem Zweck macht Münsterberg einen Ausflug in die Wahrnehmungspsychologie, um zu untersuchen, welche wesentlichen psychologischen Faktoren beim Zuschauen eines Films involviert sind. Hier konstruiert Münsterberg eine Film-Geist-Analogie mit dem Ziel zu zeigen, dass filmspezifische Mittel ähnlicher Logik folgen wie unsere mentale Phänomene es tun.

4 (Wahrnehmungs-)Psychologie des Films – Bewegung und Tiefe

Erstens fragt Münsterberg danach, wie kommt es überhaupt Zustande, dass wir die bewegten Bilder und die Tiefe im Kinobild wahrnehmen können. Wie bekannt, der Film basiert auf einer sukzessiven Wiedergabe von ursprünglich statischen Bildern, und diese zur Bewegung gebrachten Bilder sind flat bzw. zweidimensional, dessen ungeachtet haben wir kein Problem damit zu erkennen, wann ein Objekt oder Person im Vor- oder Hintergrund steht. Um dies zu erklären, postuliert Münsterberg einen aktiven Zuschauer, dessen Geist aufgrund der gesammelten Erfahrung die fehlenden Informationen sozusagen ergänzt und dadurch den Eindruck des bewegenden, mit der Tiefe versehenen Bildes ermöglicht: „„Depth and movement alike come to us in the moving picture world, not as hard facts but as a mixture of fact and symbol. They are present and yet they are not in the things. We invest the impressions with them.“ Damit nimmt Münsterberg die wichtigsten Prinzipien der Gestaltpsychologie vorweg und wendet außerdem Wertheimers Phi-Phänomen als die Erklärung für die Wahrnehmung der bewegten Bilder an. Die wichtigste Implikation aus dem Phi-Phänomen und der Wahrnehmung der Tiefe in zweidimensionalen Bilder nach Münsterberg ist der Umstand, dass der Geist sogar auf dem basalen Level der visuellen Wahrnehmung seinen eigenen Gesetzen folgt und die Welt vielmehr (re)konstruiert als lediglich treu abbildet, eine These, die viel später z. B. Gerhard Roth mit dem Arsenal der kognitiven Neurobiologie vertreten wird . Der Punkt, den Münsterberg hier machen möchte, ist folgender: „It (Phi-Phänomen) shows as well that the technology of film implicitly recognizes these laws and works its effects on the mind itself. The complex machinery (cameras, projectors, and all the processing gadgetry) producing intermittent still pictures has been developed to work directly on the raw material of the mind. The result is motion picture. This single, basic mental capability was enough to let Münsterberg concieve of the entire cinematic process as a mental process”.


5 Film-Geist-Analogie: close up und Aufmerksamkeit

Diese These lässt Münsterberg mit Analogien zwischen Geist und Film füttern und behält dabei immer das Auge am Verhältnis zwischen Film und Theater, oder etwas genauer: Durch die formale Abgrenzung des Films gegen das Theater hoffte Münsterberg Argumente vorweisen zu können, die den Kunstanspruch des ersten begründen machen sollen. In der Zeit galt der Film immer noch dem Theater unterlegen, insbesondere bezüglich der Narration, und mit diesem Dogma wollte Münsterberg einen Schluss machen. So lässt seine nächste Analogie zwischen Aufmerksamkeit und Nahaufnahme klare Vorzüge des Films dem Theater gegenüber ersichtlich werden. Während im Theater die Aufmerksamkeit nur mit Gesten oder Lauten gelenkt wird und der Blickwinkel dabei immer eine statische Totale einnimmt, steht dem Film nicht nur der Perspektivenwechsel zu Verfügung, sondern auch die Möglichkeit, die konstante Entfernung mit Nahaufnahmen zu überbrücken und das Geschehen näher und emotionaler zur Schau zu bringen. Zwei Punkte sind hier wichtig: Erstens ist close up als eine externalisierte Objektivierung der Aufmerksamkeit zu verstehen, und zweitens erweist sich der Film dem Theater gegenüber nicht nur als gleichberechtigt sondern sogar als ästhetisch überlegener:„The Close-up has objectified in our world of perception our mental act of attention and by it has furnished art with a means which far transcends the power of any theater stage.“


6 Gedächtnis, Fantasie und Emotionen

Während im Theater der Zuschauer maßgeblich auf sein Gedächtnis sich verlassen muss, um bestimmte Erzählelemente mit zeitlicher Diskrepanz in einem narrativen Kontinuum zu bewähren, steht dem Film durch Montage und Flashback ein Mittel zu Verfügung, das diese Aufgabe anscheinend besser zu erfüllen verspricht. Die Intuition diesbezüglich ist folgende: Mit einer Rückblende lässt sich ein narratives Glied viel effektiver mit der ganzen Geschichte verknüpfen als es sonst im Theater möglich ist, und das Gleiche gilt für flashforward, das ein Analogon zu unserer Imagination bzw. Fantasie entsprechen sollte.

Hierbei wird ein weiterer Punkt in Münsterbergs spezifischen Vorgehen ersichtlich: Ausgehend von einer basalen mentalen Ebene des Geistes (Wahrnehmung der Bewegung und der Tiefe) über die ausgeführten Analogien wird eine Hierarchisierung der mentalen Phänomene ersichtlich, die bei Emotionen ihre komplexeste Form erreichen soll. Damit beschränkt sich Münsterberg nicht darauf, die filmische Wirkungsweise lediglich vor dem Hintergrund einer basalen Ebene der Wahrnehmung zu explizieren, sondern über die kognitiven Fähigkeiten wie Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Fantasie und nicht zuletzt über Emotionen möchte er zeigen, dass Film durch und durch ein mentales Phänomen ist.

Hinsichtlich der Emotionen äußert sich Münsterberg ebenfalls klar und deutlich: „To picture emotions must be the central aim of the photoplay“. So sind close ups, soft focus, rhythmische Montage, Kamerabewegungen und desgleichen auch so eine Art externalisierter Objektivierung bestimmter emotionaler Stimmungen, die insgesamt ein klares Vorteil dem Theater gegenüber offenbaren sollen: „In the drama words of wisdom may be spoken and we may listen to the conversation with interest even if they have only intellectual and not emotional character. But the actor whom we see on the screen can hold our attention only by what he is doing and his action gain meaning and unity for us through the feelings and emotions which control them. More then in the drama the persons in the photoplay are to us first of all subjects of emotional experiences.”

7 Fazit der psychologischen Untersuchung: Film = Geist

Münsterbergs Vorhaben im Hinblick auf die Psychologisierung der filmspezifischen Mitteln ist erstens zu zeigen, dass der Film über die mechanische Reproduzierbarkeit hinausgeht, und zweitens die Abgrenzung des Films vom Theater zu vollziehen. Durch Montage, Nahaufnahmen, Rückblende und all die filmspezifische Mitteln scheint der Film nicht nur vom Theater grundunterschiedlich zu sein, sondern auch darüber hinaus: Nach Münsterberg verfügt der Film durch seine an mentalen Phänomenen orientierte Funktionsweise ein größeres ästhetisches Arsenal als Theater. Der erste Punkt wiederum sollte zeigen, dass filmische Darstellung, trotz ihrer offensichtlichen Affinität zur Realität, keineswegs mit der Realität selbst zu verwechseln ist. Auch wenn die Kamera auf einem kausalen Wege die räumlichen und zeitlichen Konstellationen aus der Realität auf das Zelluloid aufzeichnet, ist ein solches Material, insbesondere nach der Verarbeitung durch Montage, aber auch bereits auf einer basalen Ebene der Wahrnehmung, nicht die rohe Realität selbst. Dadurch ist der Film prinzipiell in der Lage, nicht lediglich zu reproduzieren sondern zu rekonstituieren, nicht lediglich abzubilden sondern zu transformieren, und damit ist Film als Medium nach Münsterberg prinzipiell eine Kunstform, da er nicht lediglich reproduziert sondern auch kreiert.

Damit aber ist noch nicht gesagt, warum der Film eine Kunstform sein kann. Eine solche psychologisch orientierte Untersuchung versucht zu erklären, wie die filmspezifische Mitteln vor dem Hintergrund der mentalen Phänomene funktionieren, allerdings sagt sie noch nichts über den Wert des Films, noch nichts darüber, warum wir die Filme anschauen und warum der Film den Kunstanspruch erheben darf bzw. soll. Um dies zu beantworten, macht Münsterberg im Part 2 (Ästhetik) den Anschluss an neokantianische Ästhetik und gibt damit seinem ganzen filmtheoretischen Unternehmen in „The Photoplay“ einen klaren philosophischen Hintergrund.


8 Ausblick

Damit unterbreitet Münsterberg einen filmtheoretischen Vorschlag, der nicht nur den Kunststatus des Films mit guten Argumenten untermauert, sondern auch den Anschluss an eine einflussreiche philosophische Ästhetik anbietet. Münsterbergs „The Photoplay“ - zwar nach „The Birth of Nation“ aber nicht vor „Intollerance“ – beeindruckt durch seine theoretische Breite und Komplexität, die mit einer akademischen Gründlichkeit elegant abgerundet wird. Daher verwundert es noch mehr, dass bald nach der Veröffentlichung von „The Photoplay“ in 1916 das Werk in volle Vergessenheit fiel und erst viel später von solchen Denker rehabilitiert wurde wie Jean Mitry, Dudley Andrew, David Bordwell, James Monaco etc. In seinem Buchlein hat Münsterberg bereits so früh in der Filmgeschichte die wichtigsten Prinzipien vorgenommen, die die Grundsäule des Formalismus darstellen, und bis die moderne Filmtheorie hat wahrscheinlich kein anderer Theoretiker, vielleicht Eisenstein ausgenommen, der mit einem solchen hohen Anspruch die Filmtheorie getrieben hat wie Münsterberg.

9 Andere Lexika

  • Dieser Artikel wurde in der Wikipedia gelöscht.



Erster Autor: Stanko Beronja angelegt am 27.01.2010 um 06:19, weitere Autoren: Drahreg01, Crazy1880, Gregor Bert, Zeuschen, Merlissimo

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