Soviel du brauchst - oder Semester-Anfang
Essayistische Zugabe zur Enzyklopädie |
Soviel du brauchst - oder Semester-Anfang
Autor: Gerhard Kemme
Semester-Anfang - wie in einem Zeitstrom treibend, lief das Studenten-Leben und die weit geöffnete Drehtür des Mathematik-Neubaus beförderte Studenten-Massen in die Eingangshalle. Es war eine frische, clevere Generation, welche heute am ersten Tag des neuen Semesters damit beschäftigt war, ihre Studien - auch per Uni-Hotspot und Tablet-PC – zu organisieren. Riesige Anzeigetafeln lotsten zu den Lehrveranstaltungen und es gab jedes Mal ein Glockensignal, wenn in einem Hörsaal die Vorlesung starten sollte.
Tatsächlich - die Vorlesung der Theologie-Studenten Uschi, Svenja und Carsten war angezeigt: "Mathematik für Theologen, Prof. Dr. Kappasius, 09:15, Hörsaal Q, Thema: Soviel du brauchst (Exodus 16, 18)". Der Architekt hatte sich Mühe gegeben und die Studenten brauchten einfach nur auf die Rolltreppe zu springen und wurden spiralförmig immer höher bis zu einem großen "Q" getragen - abspringen - und man war im Hörsaal, der grade für die Vorlesung hergerichtet wurde. Assistenten wischten die Schiebe-Tafeln und rieben sie mit Lappen trocken, der Beamer wurde an den Laptop angeschlossen und und das Präsentationsprogramm für die Vorlesung „Soviel du brauchst“ geladen. Wie zu alten Zeiten gab es noch einen Overheadprojektor für die schnelle Folie zwischendurch. Professor Kappasius stellte sich kurz vor und das Auditorium fand es höchst interessant, dass auch er Theologie studiert hätte, dann aber vom Glauben abgekommen wäre. "Oh, wie schade", schallte es von den Rängen des Auditoriums und Uschi ließ sogar ihr Strickzeug sinken und guckte nach dieser Beichte traurig nach vorne. Doch sein Lebenslauf ging weiter, denn im Anschluss an die Theologie hatte Professor Kappasius in der Mathematik einen neuen Lebensinhalt gefunden und würde diese Vorlesung bereits zum dritten Mal halten, so dass die Zuhörer das Vorlesungs-Skript auch als Buch kaufen könnten. Dann hätte es in seiner Biografie allerdings wiederum einen Wendepunkt gegeben, denn die Annäherung an die Unendlichkeit im Kleinen wie im Großen ließ ihn zurück zum Glauben finden. "Hallelujah" hallte es nun und die Augen der Zuhörer bekamen wieder mehr Glanz. „Das war mein Leben und nun zum Thema“.
Inhaltlich würde aus dem Mathematik-Unterricht der Allgemeinbildenden Schulen vermutlich noch bekannt sein, dass der Titel dieser Vorlesung „Soviel du brauchst“ auf eine Ordnungsrelation hinweist - die durch die Schranken "Größer als" und "Kleiner als" definiert wird. Mathematiker sind sehr genau, es stellte sich bei der Schriftauslegung dieser Bibelstelle aus dem Buch Exodus die Frage, welches die Elemente solcher von Menschen benötigten Mengen sein könnten? Wenn jemand viel braucht, wird er doch ein Behältnis mit mehr Dingen füllen, als ein anderer, der wenig benötigt. So könnte eine Menge benutzt werden, welche Teilmengen mit aufsteigenden Mächtigkeiten enthielte, wobei diese Mächtigkeiten dann die Menge der Natürlichen Zahlen umfassen würden und somit als Folge 0;1;2 ... bis n sich vergrößern sollten. Wenn man so wollte, könnte n unendlich groß werden.
„Abschließend zur heutigen Vorlesung, möchte ich ihnen gestehen, dass ich bei der Vertiefung in mathematische Fragestellungen mehr und mehr zu der Ansicht gelangt bin, dass man das Unendliche und die Null dem lieben Gott überlassen solle“, zog der Redner sein Fazit und klappte das Skript zu. Etwas Gemurmel entstand und Carsten wagte als Wortmeldung noch ein Statement, dass es mit der Null doch einfach sei, denn wenn nichts da wäre, wäre nichts da. Ein kurzer Hinweis von Professor Kappasius auf die "Speisung der Fünftausend" und die Erfahrungen der Söhne und Töchter Israels in der Wüste, wo es keine Nahrung gab und doch plötzlich der Boden mit essbarem Manna bedeckt gefunden wurde, würde doch zu bedenken geben, dass es mit der Null doch etwas voreilige Menschenweisheit wäre. Manchmal hätten Studenten in Übungen mit den Tutoren das Spiel gespielt, sich der Null anzunähern - was dann mit der Erfahrung geendet hätte, dass es auf jede Zehnerpotenz mit negativem Exponenten noch eine kleinere geben würde - und wer gerne Nullen schriebe, der könne erproben, bis zu welchem kleinstmöglichen positiven Dezimalbruch er denn schriftlich kommen würde. Nur - bis zur Null, ist keiner gekommen. Dieses Dilemma sei ihnen mit auf den Weg gegeben. Er knallte sein Skript ein zweites Mal zu und Svenja rollte ihren Pullover mit den Stricknadeln zusammen.
Die Abwärtsrolltreppe befand sich auf der anderen Seite des Hörsaals und die Techniker hatten abwärts wohl etwas mehr Tempo gegeben und schon waren Uschi, Svenja und Carsten im Tiefparterre. Wie sollte der angebrochene Tag fortgesetzt werden. „Erledigen wir ein Problem nach dem anderen. Tun wir etwas gegen unseren Hunger, es muss hier doch eine Kneipe oder Cafeteria geben“, nahm Uschi die Sache in die Hand. Die Blicke der drei wanderten auf der Suche nach einer Cafeteria an den Hinweistafeln entlang – das ergab einen Satz mit X - nur Hörsäle, Bibliotheken und Seminarräume. Dann wurde Uschi doch fündig und stupste ihre beiden Kommilitonen an und wies auf einen Eingang, über welchem ein Schild mit dem Schriftzug "Historische Kantine" hing. Das war nicht die Mensa und auch keine Cafeteria, sondern irgendwas von früher - vielleicht vor fünfzig Jahren - so ungefähr 1970. Alles verqualmt und mit Bratwurstpappen zugemüllt – dazu gab es Flyer und Flugblätter vom Fachschaftsrat – dazwischen saßen Studentengruppen mit Stapeln von Skripten zur letzten Vorbereitung auf die Klausur, um endlich das Scheinkriterium zu erfüllen: Beweise von vorne und hinten und wenn sie sich treffen, dann ist wieder eine mathematische Wahrheit entstanden. Am Tresen, hinter einer riesigen Plexiglashaube über den Bouletten von vorgestern, stand die Kantinen-Wirtin als wären fünfzig Jahre Uni-Leben einfach stehen geblieben. Uschi bestellte ein Käsebrötchen mit Orangensaft, Svenja nur eine Tafel Marzipanschokolade und Carsten wollte sich wieder durch Lustigkeit profilieren und bestellte einen "kleinen Scheffel" Manna. Die ältere Tresenkraft war Urgestein des Instituts und nicht nur von den Studenten, sondern auch von ihren eigenen Söhnen und Töchtern vieles gewohnt, so wies sie darauf hin, dass die Maßeinheit Scheffel in der heutigen Zeit unüblich sei und die Frucht Manna heute ausverkauft wäre - was es denn ersatzweise sein solle. Carsten bestellte nunmehr zwei Bouletten mit einer Extraportion Senf und ein kleines Bier. Endlich konnte die Besprechung des weiteren Tagesablaufes beginnen. Carsten meldete mit vollem Mund und Senf an den Lippen den Besuch eines Computer-Shops an, da er bezüglich neuer Software für seinen Tablet-PC zum Computer-Warenhaus müsse, Svenja wollte bei einem Antiquitäten-Händler eine hölzerne Jesusfigur für die Wohnküche der WG kaufen und Uschi hatte keine eigenen Ziele und hatte vor, die anderen bei den Einkäufen nur etwas zu begleiten.
Die Stadt war in diesem Herbst ziemlich betriebsam und Touristen sollten in eine interessante Metropole mit vielen Veranstaltungen, modernen Verkehrssystemen und einer vorzüglichen Gastronomie gelockt werden. Der Fluss konnte mit Tauchbooten durchquert werden und auf den Straßen bewegten sich führerlose Fahrsysteme. In ein solches Automobil mit Dach aber ohne Verglasung wagten sich die Drei und fühlten sich von den beweglichen optischen Sensoren etwas beobachtet. Doch die Bedienungs-Tastatur, ähnlich wie auf dem Bahnklo, verlangte nach einer Ortsangabe und Carsten gab die Adresse von seinem Computergeschäft ein und grübelte darüber, ob er auf „Schwarm“ oder „Single“ drücken solle. Uschi belehrte, dass man bei Wahl der Option „Schwarm“ mit zehn führerlosen Automobilen gemeinschaftlich dasselbe Ziel ansteuern könne - wie bei einem Vogelschwarm. Carsten wählte „Single“ und das Mobil fädelte sich langsam in den Stadtverkehr ein - ziemlich vorsichtig im Schritttempo ging es voran und unter den wachsamen Blicken der ringsum verteilten Webcams wurden alle Hindernisse umrundet und auch vor Ampeln und am Zebrastreifen gehalten. Das Mobil lieferte die Studentengruppe direkt beim Computer-Shop ab. Carsten war in seinem Element und der Verkäufer auch, denn es gab neue Programme und Anwendungen fürs Handy und für Tablet-PCs, nämlich die Steuerung einer programmierbaren Tapete, durch die das häusliche Design an den Wänden per Auswahlmenü von den Bewohnern täglich neu gestaltet werden konnte. Es war so möglich, auf einer Klebefolie mit Hilfe eines mobilen Rechners eine Vielzahl von Bildern darzustellen. Uschi musste sich setzen, das wollte nicht in ihren Kopf, man hat eine flexible Folie als Tapete, die man sich an die Wände, auf den Tisch oder in einen Schrank klebt und die Muster und Bilder soll man dann frei per Mobiltelefon oder Tablet-Computer programmieren. Die Vorteile solcher Tapete hatten Carsten überzeugt und lachend wandte er sich an seine Kommilitonin Svenja: "Siehst du, deine hölzerne Jesusfigur brauchen wir jetzt auch nicht mehr, das wird einfach ein Klick aufs Menü und wir haben das tollste Bild der Welt an der Wand". Etwas traurig mischte sich der Verkäufer ein und informierte, dass ein auferstandener Jesus im Holzdesign als Anwendung leider noch nicht zur Verfügung stünde. Carsten murmelte etwas, dass er solche Bilder programmieren und an den Shop verkaufen könnte. Aber der Verkäufer machte wenig Hoffnung, denn das Kopieren und Einfügen hätten schon andere erfolglos probiert. Jetzt war Svenja aber auf dem Sprung und lotste ihre Freunde zum Antiquitäten-Shop. Etwas versteckt in der Ecke erkannte sie die Holzfigur des auferstandenen Jesus – gesehen, gekauft und ab ins Studenten-Quartier. Wenig später waren die drei angehenden Theologen in der Wohnküche ihrer WG und in der Ecke schmückten Uschi und Svenja einen kleinen Altar mit ihrem Jesus drauf, während Carsten per Tauchsieder das Wasser für den Tee bereitete, weil der E-Herd noch auf Anschluss durch den Hausverwalter wartete. Selbst Carsten fiel der Verzicht auf die Bildschirm-Tapete leicht: "Mehr brauchen wir nicht!"
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