Kretinismus (historisch)

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Kretinismus, eine endemische, in ihren Ursachen noch nicht genau bekannte Entwickelungskrankheit, welche bei den davon befallenen Individuen (Kretins, Fexe, Trotteln, Gocken, Gauche, Simpel) eine eigentümliche Mißgestaltung der körperlichen Organisation und meist einen hohen Grad geistiger Schwäche zur Folge hat.

Woher das Wort Kretin stammt, ist nicht sicher; weder die Ableitung von creta (Kreide) noch die von chrétien (weil die Unglücklichen als "Segen des Himmels" bezeichnet wurden) läßt sich in irgend einer Weise begründen. Am wahrscheinlichsten ist das Wort eine jener zahlreichen im Volksmund befindlichen Bezeichnungen für Geistesschwäche und entstand in einer von der Krankheit heimgesuchten Gegend mit romanisch sprechender Bevölkerung als Provinzialismus. Manche bringen es, obgleich auch dafür ein Nachweis nicht geführt werden kann, in Beziehung zu dem Wort cretira (creatura), welches s. v. w. elendes Geschöpf, Tropf bedeutet.

Der K. war schon im Altertum bekannt, aber erst vom 16. Jahrh. ab finden sich Dokumente über das Vorkommen desselben in der Schweiz (Paracelsus, Agricola). Eingehender wurde die Krankheit erst seit dem Anfang dieses Jahrhunderts studiert, und besonders haben sich Fodéré, Saint-Lager, Baillarger, Parchappe, auch der Präfekt de Rambuteau, Iphofen, Meyer-Ahrens, Stahl, Virchow, Klebs u. a. an diesen Forschungen beteiligt.

Der K. macht sich bei den davon befallenen Individuen, wenn nicht schon bei der Geburt, so doch in frühster Jugend bemerklich. Je nach dem Grade der Ausbildung, welchen die Symptome der Krankheit erreichen, und also auch nach dem Grade der körperlichen Mißbildung und geistigen Schwäche unterscheidet man die vollkommenen Kretins, die Halbkretins und die Kretinösen. In physischer Beziehung bietet nun der K. die folgenden wichtigern Charaktere. Die Statur ist klein (vollständige Kretins werden nicht größer als 1 m), untersetzt und dick, die Brust flach, der Unterleib aufgetrieben. Die untern Gliedmaßen sind kurz, an den Gelenken aufgetrieben und zeigen mannigfache Verkrümmungen; die obern sind lang und dünn, mit breiten, dicken Händen und kurzen Fingern. Der sehr große Kopf wird nur schwer aufrecht getragen. Der Schädel ist sehr unregelmäßig gebaut: in seinem vordern und obern Teil klein und wie zusammengedrückt, vergrößert er sich vom Scheitel aus nach hinten zu einem auffälligen Umfang. Dabei ist die behaarte Kopfhaut stark gewulstet; die dichten, starken Haare gehen vorn tief herab. Das Gesicht gewährt einen monströsen Anblick. Es ist breit, besonders im obern Drittel; die Ohren sind unschön gebildet und abstehend; die Augenbrauen sind unregelmäßig und wenig entwickelt; die breite Nase hat eine eingesunkene Wurzel und weite Löcher; die Augen sind weit voneinander entfernt, nach innen gerichtet und haben dicke, kaum geöffnete, oft triefäugige Lider; die Wangen sind aufgetrieben und schlaff; die dicken, wulstigen, nach außen gewandten Lippen umschließen den offenen Mund, aus welchem die dicke, fleischige Zunge oft vorsteht und der Speichel ausfließt. Die Gesichtshaut ist faltig, runzelig und welk, ihre Farbe erdfahl; die Physiognomie ist ohne Ausdruck, und das ganze Gesicht hat schon von Jugend auf ein greisenhaftes Aussehen. Die Zähne sind fast immer lückenhaft, unregelmäßig eingepflanzt und kariös; ihre Entwickelung verspätet sich in den meisten Fällen. Der Hals ist kurz und dick und trägt einen bald mehr, bald weniger entwickelten Kropf.
Im allgemeinen charakterisiert sich der Körperbau der Kretins durch den Mangel der Symmetrie und Proportionalität der verschiedenen Körperteile und durch das gänzliche Fehlen von Harmonie in seinen Formen (s. Abbildung, nach einem Bild in Virchows "Gesammelten Abhandlungen"). Die Funktionen dieses abnormen Organismus gehen stumpf und träge von statten. Die Bewegungen sind langsam und unsicher; die Arme hängen schlaff herab; der Gang ist schleppend und wackelnd, zuweilen ganz unmöglich. Die Sinnesorgane sind stumpf, ihre Wahrnehmungen, wenn überhaupt welche vorhanden sind, unvollkommen. Die geschlechtliche Entwickelung verspätet sich meist sehr bedeutend. Vollkommene Kretins haben keinen Geschlechtstrieb und sind nicht zeugungsfähig; Halbkretins und Kretinöse dagegen zeigen nicht selten eine starke geschlechtliche Erregung und sind auch zeugungsfähig. Geistige Fähigkeiten mangeln den vollständigen Kretins gänzlich. Es geht ihnen selbst der Instinkt der Selbsterhaltung ab; man muß sie wie kleine Kinder füttern (wobei sie unterschiedslos verschlucken, was man ihnen gibt) und reinlich halten. (Vgl. hierüber Idiotie.)

Nach den Untersuchungen Virchows ist die Schädelform der Kretins im wesentlichen bedingt durch eine vorzeitige Verknöcherung der die einzelnen Teile des Schädelgrundbeins trennenden Knorpel und durch die so entstandene Verkürzung der Schädelbasis. Die neuern Untersuchungen von Klebs ergeben nun, daß diese vorzeitige Verwachsung der Knochen der Schädelbasis nur eine Teilerscheinung eines über das ganze Skelett verbreiteten pathologischen Vorganges ist, welcher darin besteht, daß die Wucherung der Knorpelelemente, welche normalerweise der Verknöcherung vorausgeht, nicht stattfindet. Demgemäß ist der K. als eine eigentümliche Ernährungsstörung des wachsenden Organismus aufzufassen, welche sich charakterisiert durch ein vorzeitiges Aufhören der Knochenbildung und durch eine dieser allgemeinen Hemmung des Längenwachstums der Knochen gegenüberstehende übermäßige Entwickelung der Weichteile, namentlich der äußern Haut, der Schleimhäute des Mundes, des Rachens und der Zunge, vielleicht auch des Gehirns.

Der K. im weitern Sinn, als Endemie betrachtet, macht sich nicht bloß bei den im engern Sinn kretinistisch gestalteten Individuen bemerklich, sondern die ganze Bevölkerung an den befallenen Orten zeigt sich von der Krankheitsursache betroffen. Außer den eigentlichen Kretins, Halbkretins und Kretinösen findet sich eine Menge kropfiger, schwachköpfiger, verkümmerter und schlecht proportionierter Individuen, Taubstummer, Stotterer und Stammler, Schwerhöriger, Schielender; es geht ein allgemeiner Zug körperlicher Degeneration und geistiger Verdumpfung durch die ganze eingeborne Bevölkerung, und auch die für gesund und klug geltenden Individuen sind durchschnittlich unschön, beschränkt und träge. Besonders hervorzuheben ist das Verhältnis des K. zum Kropf. Der K. kommt nie vor, ohne daß auch der Kropf endemisch ist, so daß man den letztern als den geringern Grad der Einwirkung derselben Ursache ansehen kann, welche den erstern erzeugt. Abgesehen davon, daß die meisten Kretins sehr bedeutende Kröpfe haben, bringen Eltern mit Kröpfen häufiger und vollkommnere Kretins zur Welt als solche ohne Kröpfe. Gesunde erwachsene Personen, welche in Kretingegenden einwandern, werden von Kröpfen befallen; ja, selbst die Tiere (Pferde, Hunde) leiden in solchen Gegenden am Kropf. Nach Morel ist der in den befallenen Gegenden endemische Kropf nur das äußerliche Merkmal einer schweren Erkrankung des ganzen Organismus (Kropfkachexie), und diese Erkrankung hat bei der Deszendenz der davon betroffenen Personen den K. zur Folge. Sollte diese Auffassung, welche den anderweitigen Ansichten Morels über die fortschreitende Degeneration bei Nerven- und Geisteskrankheiten entspricht, auch nicht stichhaltig sein, so ist jedenfalls die innige Verbindung zwischen dem endemisch vorkommenden Kropf und dem K. sicher konstatiert ("Le goître est le père du crétinisme", Fabre).

Was nun die Verbreitung des Kropfes und des K. betrifft, so finden sich derartige Krankheitsherde in allen Erdteilen, hauptsächlich innerhalb der großen Gebirgsstöcke und ihrer Ausläufer. In Europa sind besonders heimgesucht die Schweiz (Wallis, Graubünden, Uri, Waadt etc.), Frankreich (Savoyen, Pyrenäen und die Gebirge der Auvergne), Österreich (Salzburg, Böhmen, Steiermark, Tirol, Kärnten und Oberösterreich), weniger Deutschland (Unter- und Mittelfranken, manche Gegenden Württembergs und Badens, einige Orte des Rheinthals bei Straßburg und auf der Insel Niederwörth, auch Thüringen). Überall sind es nicht die eigentlichen Hochgebirge, wo sich die Endemien eingenistet haben, ebensowenig die frei liegenden Abdachungen, sondern meist im mittlern Teil der Gebirge gelegene tiefe, enge und mehr oder weniger abgeschlossene Thäler. Auch die Flußläufe scheinen Einfluß zu haben. Nach Klebs ist für Böhmen die Dichtigkeit der Kretinbevölkerung am größten in den Quellgebieten der Wilden Adler und der Elbe, dann der Eger und der Wottawa; sie nimmt ab in den untern Flußläufen und wieder zu beim Zusammenfließen derselben, namentlich da, wo die Strömungsgeschwindigkeit infolge des senkrechten Einfallens der Nebenströme in den Hauptstrom abnimmt. Die Zahl der vorhandenen Kretins und ihr Verhältnis zur übrigen Bevölkerung ist in den verschiedenen befallenen Gegenden sehr beträchtlichen Schwankungen unterworfen. In Savoyen zählte man 22 pro Mille, im Departement Oberalpen 16 pro Mille. In Salzburg sollen auf 10,000 Einw. im Durchschnitt 38,9, in Oberösterreich 18,3, in Steiermark 16,9 Kretins kommen. In Böhmen wurden 1873 amtlich 998 Kretins (1:5116) gezählt. Nach Rehm konstatierte man 1856 in 28 Ortschaften der Kreise Schmalkalden und Brotterode (Thüringen) 181 Kretins, d. h. 1 auf 127 Einw. Übrigens ist zu bemerken, daß fast überall eine Abnahme des K. zu beobachten ist. Dies ist ebensowohl in der Schweiz als im Rheinthal, in Franken und in Thüringen festgestellt worden; im Harz, wo es früher Kretins gab, sind solche jetzt nicht mehr vorhanden. Dagegen sollen sie in dem französischen Departement Oberalpen zugenommen haben.

Die Ursachen des K. sind noch unbekannt, es wird angeschuldigt ein hoher Feuchtigkeitsgehalt der Luft, Stagnation und mangelnde Ventilation derselben, nicht ausreichende Besonnung, Unreinlichkeit der Wohnungen, soziales Elend, Fehlen der industriellen Thätigkeit, Abgeschlossenheit und selbstgewählte Isolierung einer wenig intelligenten, in Vorurteilen und alten, oft schädlichen Gewohnheiten befangenen Bevölkerung, Heiraten unter Blutsverwandten und die Vererbung; alle diese und andre gesundheitswidrige Einflüsse bereiten den Boden vor, auf welchem jenes unbekannte, aber wesentliche Agens den endemischen Kropf und K. zur Entwickelung bringt. Eine eigentliche Behandlung des ausgebildeten K. ist nicht möglich, auch sind Kretins einer geistigen Entwickelung nicht fähig, dagegen müssen die hygieinischen Verhältnisse nach Möglichkeit gebessert werden. Hebung des Wohlstandes, Beseitigung von Vorurteilen und alten Gewohnheiten, Vermeidung der Verwandtschaftsehen; Verbesserung der Wohnungen durch Vergrößerung der Fenster, durch Erhöhung des Fußbodens, durch Anlage von Schornsteinen, durch Kalkputz der Wände, durch Abtrennung von Schlafzimmern; Verbesserung der Luft in den Ortschaften durch Entfernung von stagnierendem Wasser, durch Reinigung der Wege und Straßen; Beschaffung guten Trinkwassers durch Zisternen oder durch Zuleitung aus unverdächtigen Quellen; Regelung der Flußläufe, Trockenlegung von Sümpfen und Austrocknung des Bodens überhaupt, Abholzung von Wäldern: dies sind die Mittel, durch welche man dem K. entgegenzutreten im stande sein wird. Speziell für Kretins bestimmte Anstalten gibt es seit dem Eingehen der Guggenbühlschen auf dem Abendberg wohl nicht mehr; die Unglücklichen sind teils in den allgemeinen Siechenhäusern, teils in Idioten- oder Irrenanstalten unterzubringen.

Vgl. außer den ältern Schriften von J. F. ^[Jacob Fidelis] Ackermann ("Über die Kretinen, eine besondere Menschenart in den Alpen", Gotha 1790), Fodéré (Berl. 1796), Iphofen (Dresd. 1817), Demme (Bern 1840), Stahl (Bonn 1846 u. 1851), Virchow, Entwickelung des Schädelgrundes (Berl. 1857); Derselbe, Gesammelte Abhandlungen (2. Aufl., das. 1862); Parchappe, Études sur le goître et le crétinisme (Par. 1874); Baillarger, Enquete sur le goître et le crétinisme (das. 1873); Klebs, Beobachtungen und Versuche über K. (im "Archiv für experimentelle Pathologie", Bd. 2, 1874); Derselbe, Studium über die Verbreitung des K. in Österreich (Prag 1877); Knapp, Untersuchungen über K. in einigen Teilen Steiermarks (Graz 1878); Linzbauer, K. und Idiotie in Österreich-Ungarn (Wien 1882).“

Meyers Konversationslexikon, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892; ebd.: S. 194: Kretinismus

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